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Friede auf Erden … der vierte Sonntag im Advent

Friede auf Erden … der vierte Sonntag im Advent

Heute (also eigentlich gestern; ich hatte viel zu tun) ist der vierte (und letzte) Sonntag im Advent. Passenderweise – angesichts der Tatsache, dass alle immer mehr zu tun haben und sich von Einkaufs- und Versandproblemen nervös machen lassen und gleichzeitig der Rinderschmorbraten für die Heiligabend-Tacos sein verlockendes Aroma verströmt – steht die vierte Kerze an unserem Adventskranz für Frieden. Dies ist ein Moment, um tatsächlich Frieden zu suchen, kurz einen Schritt von den Sorgen (und den schrecklichen Nachrichten) des Alltags zurückzutreten, bei Nacht ins Freie zu gehen, zu den Sternen aufzublicken und die Unendlichkeit zu betrachten, deren Verheißung nah ist.

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Aus DAS SCHWÄRMEN VON TAUSEND BIENEN, © Diana Gabaldon & Barbara Schnell

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Das Ständerwerk für die erste Etage war fertig. Es würde zwar noch eine Weile dauern, bis die Wände ganz verkleidet waren und das Ganze eine Decke hatte, doch seine Nächte des kühlen Schlafs mit Claire unter den blanken Sternen waren gezählt. Er empfand einen leisen Stich des Bedauerns bei diesem Gedanken, der jedoch augenblicklich einer gemütlichen Vision wich, in

der sie in drei Monaten in einem Federbett vor einem warmen Kamin schliefen, die Fensterläden zum Schutz vor dem heulenden Wind und dem dichten Schneefall geschlossen.

Er sank langsam auf den großen Sessel am Kamin, und ein wenig weidete er sich an dem Schmerz, als sich seine Gelenke entspannten, weil Kopf wie Knie wussten, dass jetzt der glückselige Feierabend wartete. Der Haushalt war im Bett, aber Claire war zu einer Geburt gegangen. Sie fehlte ihm zwar, doch es war ein angenehmer Schmerz – wie das Ziehen in seinem Rücken. Sie würde ja zurückkommen, vermutlich morgen. Fürs Erste hatte er ein schönes Feuer, das ihm die Füße wärmte, ein Glas milden Rotwein und Bücher in Griffweite. Er zog die Brille aus seiner Tasche, klappte sie auseinander und setzte sie auf seine Nase.

Die gesamte Bibliothek des Hauses stand in zwei bescheidenen Stapeln auf dem Tisch neben seinem Weinglas. Eine kleine eselsohrige Bibel, die in grünes Tuch gebunden war. Er berührte sie sanft, wie immer, wenn er sie sah; sie war ein alter Wegbegleiter – eine Freundin, die oft mit ihm gemeinsam schlechte Zeiten durchgestanden hatte. Ein Exemplar von „Roxana oder eine vom Glück begünstigte Buhlerin“, das keinen Buchdeckel hatte … es war sicher besser, wenn er das Buch mit ins Schlafzimmer nahm. Noch hatte Jem zwar kein Interesse daran gezeigt, aber im Fall des Falles konnte der Junge gewiss gut genug lesen, um zu begreifen, wovon es handelte.

Ein recht brauchbares Exemplar von Mr Popes Übersetzung der Odyssee – vielleicht würde er mit Jem darin lesen; bestimmt würde er die Schiffe interessant finden, und es würde eine gute Ausrede sein, dem Jungen gleichzeitig ein bisschen Latein einzutrichtern. Joseph Andrews … pure Papierverschwendung; vielleicht würde er es Hugh Grant zum Tausch anbieten, denn der Mann hatte eine Vorliebe für Albernes. „Manon Lescaut“, auf Französisch und in feines Leder gebunden.

Er runzelte flüchtig die Stirn; er hatte es noch nicht aufgeschlagen. Lord John hatte es ihm geschickt, bevor …

Er grunzte gereizt und griff automatisch nach dem Buch am Fuß des Stapels – Mandys großes „Grünes Ei mit Speck“. Die bunte Farbe, der Titel und das lustige Tier auf dem Umschlag brachten ihn zum Lächeln, und ein paar Minuten mit »Ich-bin-Sam« besserten seine Laune.

Als Schritte die Treppe herunterkamen, richtete er sich auf, doch es war nur Bluebell, die mit sanft wedelnder Rute zu seinem Sessel stapfte, ihn in der Hoffnung auf etwas Essbares beschnüffelte, dann aufgab und zur Tür ging, wo sie vielsagend stehen blieb.

»Aye, a nighean«, sagte er und öffnete ihr die Tür. »Pass auf Berglöwen auf.«

Sie verschwand mit einem Schwung ihrer Rute in der Nacht, doch er blieb noch einen Moment stehen, sah sich um und lauschte in die Dunkelheit hinaus. Es war still, bis auf die Bäume, die sich miteinander unterhielten, und er trat ins Freie und blickte zu den Sternen hinauf. Erst jetzt ließ er die Verärgerung ziehen, die „Manon Lescaut“ in ihm ausgelöst hatte, und ließ den Frieden der Sterne ein. Er nahm einen tiefen Zug der frischen Kiefernluft und atmete langsam aus.

»Aye, ich verzeihe dir, du verdammter kleiner Mistkerl«, sagte er zu John Grey und spürte die Erleichterung seiner Seele, auf die er unbewusst aus gewesen war.

Ein Rascheln im Gebüsch neben dem Abort verkündete die Rückkehr der Hündin. Er wartete, bis sie mit ihrem emsigen Geschnüffel fertig war, und hielt ihr die Tür auf. Sie lief mit einem kurzen Schwanzwedeln an ihm vorbei und sprang leise die Treppe hinauf.

Innerlich ruhiger, spazierte er im Sternenschein zu dem Wacholder, der am Brunnen wuchs, um sich einen Zweig zu pflücken. Er mochte den Geruch der Beeren – Claire sagte, man benutzte sie, um Gin zu aromatisieren, den er nicht besonders mochte, doch der Duft war gut.

Wieder im Haus, die Tür verriegelt und das Feuer geschürt, kehrte er zu den Büchern zurück. Der Wacholderzweig strömte eine leise frische Duftwolke aus, die gut zu seinem Wein passte. Er griff nach einem der dicken kleinen Bücher über Hobbits, die Brianna ihm mitgebracht hatte, doch selbst mit Brille waren sie so eng bedruckt, dass er vom bloßen Hinsehen müde wurde, und er legte es

wieder hin und suchte den Stapel nach etwas anderem ab.

Nicht „Manon“, noch nicht. Seine Vergebung war zwar aufrichtig, aber auch widerstrebend, und er wusste genau, dass sie noch einiger Wiederholungen bedürfen würde, ehe er wieder mit John Grey sprach.

Ohne Zweifel war es der Gedanke an widerstrebende Vergebung, die ihn das Buch ergreifen ließ, das Brianna für sich selbst mitgebracht hatte – Frank Randalls Buch. „Rebellenseele“.

»Mmpfm«, sagte er, zog es aus dem Stapel und drehte es in den Händen. Es fühlte sich seltsam an; gute Größe und Gewicht, solide gebunden, doch der Einband hatte einen sonderbaren rosa-grünen Tartan-Hintergrund, darauf ein hellgrünes Quadrat mit einem recht anständigen kleinen Gemälde eines schottischen Breitschwertgriffes und eines Stückchens der Klinge. Unter dem Quadrat stand der Untertitel, Schotten und die Amerikanische Revolution. Doch der Grund, warum es sich seltsam anfühlte, war die Tatsache, dass es in einen transparenten Bogen eingeschlagen war, der nicht aus Papier war, aber glatt unter seinen Fingern. Plastik, hatte Brianna auf seine Frage zu ihm gesagt. Natürlich kannte er das Wort, jedoch nicht mit dieser Bedeutung. Er wendete das Buch, um sich das Foto zu betrachten. Zwar gewöhnte er sich allmählich an Fotografien, doch ihm stockte dennoch kurz der Atem, als ihm der Mann so lebendig entgegenblickte.

Er drückte seinen Daumen fest auf Frank Randalls Nase, dann hob er ihn wieder. Er drehte das Buch hin und her und ließ das Licht des Feuers über den Plastikumschlag huschen. Er hatte einen schwachen Abdruck hinterlassen, der nicht zu sehen war, wenn man direkt darauf schaute.

Plötzlich schämte er sich seines kindischen Verhaltens. Er wischte den Abdruck mit dem Hemdsärmel fort und legte sich das Buch auf das Knie. Das Foto blickte ruhig durch eine dunkel geränderte Brille zu ihm auf.

Es war nicht nur der Autor, der ihn verstörte. Es versetzte ihn oft in Sorge, wenn er Details kommender Ereignisse von Claire und Brianna und Roger Mac hörte. Doch die Tatsache ihrer Gegenwart beruhigte ihn; ganz gleich, was für Schrecknisse geschehen würden, viele Menschen hatten sie überlebt. Dennoch war ihm klar, dass ihn zwar niemand aus seiner Familie je anlügen würde, dass sie jedoch die Dinge, die sie ihm erzählten, oftmals abschwächten. Frank Randall war etwas anderes: ein Historiker, dessen Bericht über das, was in den nächsten paar Jahren geschehen würde …

Nun, er wusste nicht genau, wie und was er sein würde. Beängstigend vielleicht. Möglicherweise bestürzend. Vielleicht beruhigend … hier und da.

Auch wenn er nicht lächelte, sah Frank Randall ganz umgänglich aus. Tiefe Falten zerschnitten sein Gesicht. Nun, der Mann hatte einen Krieg durchgemacht.

»Ganz zu schweigen davon, dass er mit Claire verheiratet war«, sagte er laut und war überrascht über den Klang seiner Stimme. Er nahm sein Weinglas und trank einen Schluck und behielt ihn einen Moment im Mund. Doch dann schluckte er und drehte das Buch wieder um.

»Nun, ich weiß nicht, ob ich dir vergebe oder nicht, Engländer«, murmelte er. Er schlug es auf und atmete den reinigenden Zedernduft. »Oder du mir. Aber wir wollen doch einmal sehen, was du mir zu sagen hast.«

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