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Vom Wesen der Familie

Vom Wesen der Familie

Vor ein paar Tagen hat mich jemand im Litforum gefragt, warum William das Gefühl hat, jetzt (nach seiner Ankunft in Fraser‘s Ridge) zu einer Familie zu gehören – gehörte er denn nicht schon zu den Greys? (Ich paraphrasiere, aber das war der Kern der Frage.)

Das war eine interessante Frage, und ich dachte, einige von Euch interessieren sich vielleicht für die Antwort – die ich mit einem kurzen Exzerpt illustriere. (Für die, die keine Exzerpte lesen möchten, habe ich einen kleinen Spoilerabstand eingefügt.)

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Der Forumseintrag:

Liebe Elizabeth,

hmm. Also aus meiner Sicht betrachtet: Meine Schwester und ich haben (oder hatten) buchstäblich hunderte von Vettern und Kusinen (unser Vater war das dreizehnte Kind seiner Eltern – er hatte diverse Nichten, die dreißig Jahre älter waren als er). Meine Großmutter väterlicherseits ist an meinem elften Geburtstag gestorben (weshalb ich mich so lebhaft daran erinnere), und während er für die Zugfahrt nach LA zu ihrer Beerdigung packte, hat uns mein Vater gefragt, ob wir ausrechnen könnten, wie viele Nachkommen Grandma Inez zu diesem Zeitpunkt hatte. Wir sind auf grob sechshundert gekommen – und das ist sechzig Jahre her.

Ich hatte nicht das Gefühl, dass die Familien meiner Vettern und Kusinen meine Familie waren. Meine eigene – geradezu kleine – Familie bestand aus meinen Eltern, meiner Schwester und mir, Punkt. Ich empfand durchaus ein Gefühl der Verwandtschaft mit den jüngeren von ihnen – heute empfinde ich es mit all meinen Verwandten, den bekannten und den unbekannten – aber nein, ich habe nicht das Gefühl, dass ich zu ihren Familien gehöre. Dieses besondere Gefühl der Zugehörigkeit entsteht, wenn man im selben Haushalt lebt, in einem Umfeld, in dem man gemeinsam isst, den Alltag bestreitet und schläft.

Als Kinder war es für uns im Sommer nicht ungewöhnlich, morgens aufzuwachen und einen Vetter oder eine Kusine in unserem Bett zu finden. Wir wohnten in Flagstaff, Arizona, und die Hälfte der Geschwister meines Vaters (nebst Familien) lebte in New Mexico, die andere Hälfte in Kalifornien. Immer wenn es also in Kalifornien oder in New Mexico eine Hochzeit, eine Geburt oder eine Beerdigung gab, fuhr die jeweils andere Hälfte der Verwandtschaft an den Ort des Geschehens. Selbst auf modernen Überlandstraßen (und die gab es nicht) dauert diese Fahrt zwei Tage, also machten die Reisenden jedesmal über Nacht bei uns Halt. Wir fühlten uns den Kindern, die neben uns aufwachten, immer sehr nah, aber wir betrachteten sie nicht als Familie.

Also, ja, natürlich empfindet William ein Verwandtschaftsgefühl mit Hal, Minnie und ihren Kindern – aber sie sind nicht seine „Kern“familie. Das war die Familie seiner Mutter – seine Großeltern, seine Tante Isobel (die für ihn „Mutter Isobel“ ist und seine leibliche Mutter „Mutter Geneva“) und sein Stiefvater Lord John. Das sind die Menschen, mit denen er zusammengelebt hat.

Die Armee kann eine andere Art der Familie sein – deren Mitglieder einander sogar oft näher stehen als die leibliche Familie. Auch in der Armee lebt man miteinander und entwickelt oft sehr enge Bande zu anderen Soldaten – oftmals enger als die zur eigenen Familie (natürlich je nach dem, wer man ist und aus welchen Umständen man kommt).

Wir haben noch nicht genug von Williams Leben in der Armee gesehen (oder in der Schule in England – und alte Schulfreundschaften sind oft mehr als nur schmückendes Beiwerk), um zu wissen, was für Freundschaften er dort hatte, aber diese Beziehungen sind Jahre her.

Hier ist er also nun, von all seinen früheren Beziehungen mehr oder weniger abgetrennt und ziemlich ahnungslos, wie es jetzt weitergehen soll, weil er einen großen Teil seines Selbstgefühls und seiner gesellschaftlichen Identität verloren hat – also der Fähigkeit, sich unter Menschen zu bewegen, die nicht unbedingt das gleiche Bild von ihm selbst oder von der Welt haben wie er. In den letzten beiden Büchern konnten wir sehen, wie er darum kämpft zu begreifen und herauszufinden, wie er richtig handeln kann, wie er überlegt, was zum Teufel er mit seinem Leben anfangen soll.

Und jetzt ist er in einem sicheren Hafen, zumindest vorübergehend. Er kennt und liebt Claire, er hält große Stücke auf seine Schwester, auch wenn er ihr mit Vorsicht begegnet, und … nun ja, er hatte inzwischen einiges an Zeit, sich mit der Vorstellung anzufreunden, dass es Jamie gibt. Aber Lord John liebt er von Herzen, den Mann, der seit seiner Kindheit sein Vater ist. Und Lord John wurde entführt.

Also ist er an den einzigen Ort gekommen, an dem er um Hilfe bitten kann.

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(Spoiler.)

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Und er bekommt sie auch, und seine Familie nimmt ihn auf, nicht nur metaphorisch, sondern buchstäblich. Sie geben ihm Nahrung, körperlich wie emotional, in Form von Essen und Zuneigung. Und ein Mensch, der so lange orientierungslos und allein gewesen ist … ja, er will irgendwo hingehören, zu jemandem gehören, und allmählich wird ihm bewusst, dass dies der Ort ist und seine Familie.

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[Auszug aus Buch Zehn, noch ohne Titel, © Diana Gabaldon & Barbara Schnell]

William öffnete die Augen und lag still. Er hatte sich daran gewöhnt, nicht genau zu wissen, wo er war, wenn er aufwachte, außer, wenn er im Wald schlief. Ein nächtlicher Wald ist ein geheimnisvoller Ort, und seine inneres Ohr hörte die ganze Nacht Geräusche, während in der Tiefe offenbar ein Teil seines Gehirns Dinge erkannte und verwarf, wenn es Wind in den Blättern war, fallende Eicheln oder Regen, der auf das Zeltleinen seines Unterschlupfs prasselte, gleichzeitig aber aufmerksam genug, um ihn vom schweren Tritt eines Bären in der Nähe zu unterrichten – ganz zu schweigen von den Ästen, die auf seinem Weg zerbrachen.

Das Resultat dieser Verhaltensweise seines Gehirns war, dass er sich die ganze Nacht seiner Umgebung bewusst war, auch wenn er nie ganz wach wurde, und er daher in der Dämmerung nicht überrascht war.

Letzte Nacht jedoch hatte er geschlafen wie ein Stein, erschöpft von seiner Reise, verwöhnt mit gutem, warmem Essen und so viel Alkohol, wie er trinken konnte. Er erinnerte sich nur verworren daran, wie er schlafen gegangen war, doch jetzt lag er auf dem Boden eines leeren Zimmers – er lag auf einer Art Unterlage, spürte aber die glatten Dielen unter seinen Händen, auf ihm etwas Warmes. Licht drang durch ein mit Jute verhangenes Fenster …

Und ganz plötzlich war der Gedanke in seinem Kopf, ohne Vorwarnung.

Ich bin im Haus meines Vaters.

„Himmel“, sagte er laut und setzte sich blinzelnd auf. Der ganze vergangene Tag kam zurück geströmt, ein Wirrwar aus Anstrengung, Schweiß und Sorge, während er aufstieg durch Wälder und Felsen, bis er schließlich ein großes, schönes Haus zum Vorschein kommen sah, dessen gläserne – Glas? In dieser Wildnis? – Fenster in der Sonne glitzerten, fremd inmitten der Bäume.

Er hatte sich und das Pferd über die Grenzen der Angst und Erschöpfung hinaus getrieben, und dann – war er da, saß einfach auf der Veranda. James Fraser.

Auf der Veranda und dem Vorplatz waren noch mehr Menschen gewesen, doch er hatte von keinem Notiz genommen. Nur von ihm. James Fraser. Er hatte Meilen und Tage damit verbracht zu entscheiden, was er sagen sollte, wie er die Situation beschreiben, seine Bitte formulieren sollte – und am Ende war er einfach geradewegs vor die Veranda geritten, außer Atem, und hatte gesagt: „Sir, ich brauche Hilfe.“

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