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Noch 9 Tage / Daily Lines

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Jamie achtete darauf, nur solche Pferde zu besuchen, die vom Alter und Temperament her versprachen, lieb zu einem zweijährigen Kind zu sein, doch er freute sich – genau wie Lord Dunsany – zu sehen, dass William keine Angst vor den enormen Tieren hatte. Jamie behielt den alten Mann genau so sorgfältig im Auge wie das Kind; Seine Lordschaft hatte eine kranke Hautfarbe, seine Hände waren nur noch Haut und Knochen, und Jamie konnte die Luft in seinen Lungen pfeifen hören, wenn er atmete. Allen Umständen zum Trotz mochte er Dunsany sehr, und er hoffte, dass der Baron nicht kurz davor stand, in der Stallgasse zu sterben.
„Oh, da ist ja mein guter Phil“, sagte Dunsany, und ein Lächeln breitete sich über sein Gesicht, als sie sich einer der großen Boxen näherten. Beim Klang seiner Stimme hob Philemon, ein bildschöner achtjähriger Dunkelbrauner, den Kopf und betrachtete sie einen Moment lang offen durch seine langen Wimpern, bevor er den Kopf wieder senkte und ein paar verstreute Haferkörner vom Boden aufknabberte.
Dunsany kämpfte mit dem Riegel, und Jamie streckte hastig die Hand aus, um die Tür zu öffnen. Das Pferd hatte nichts dagegen, dass sie zu ihm in die Box kamen, und verlagerte sich nur schweifwedelnd ein wenig zur Seite.
„Also, du darfst nie hinter ein Pferd gehen“, sagte Jamie zu William. „Wenn du es erschreckst, kann es sein, dass es dich tritt, aye?“ Das Haar des kleinen Jungen kringelte sich auf dem Scheitel zu einem Wirbel. Er nickte ernst, doch dann wand er sich, weil er auf den Boden wollte.
Jamie sah Dunsany an, der nickte, dann stellte er William vorsichtig auf den Boden, bereit, ihn sofort wieder an sich zu reißen, falls er kreischte oder Lärm machte. Doch William stand stocksteif da, den Mund leicht geöffnet, und sah fasziniert zu, wie der riesige Kopf näher kam und die weichen Lippen die Körner auflasen … und mit einem sehr seltsamen Gefühl der Orientierungslosigkeit spürte sich Jamie plötzlich selbst auf dem Boden eines Stalles stehen und hörte das tiefe, breiige Knirschen eines kauenden Pferdes direkt neben sich, sah die großen, glänzenden Hufe und roch Heu und Hafer und den herrlichen, durchdringenden Geruch des warmen Pferdefells. Er hatte jemanden hinter sich gespürt, war sich bewusst gewesen, dass dort kräftige Männerbeine in Wollstrümpfen standen, und hörte, wie sein Vater lachte und etwas sagte, doch das einzige, wofür er Augen hatte, war das Pferd, dieses gewaltige, schöne, sanfte Geschöpf, so erstaunlich, dass er es am liebsten umarmt hatte.
William umarmte es tatsächlich. Verzaubert trippelte er vorwärts und umarmte Philemons Kopf, ein Akt seliger Liebe. Die Augen des Pferdes weiteten sich überrascht unter den langen Wimpern, und es atmete aus, so dass sein Atem dem Kind durch die Kleider fuhr, tat sonst aber nichts, außer ein wenig mit dem Kopf zu nicken, so dass Willie ein paar Zentimeter in die Luft gehoben wurde, und ihn dann sanft wieder abzusetzen und weiter zu fressen.
Willie lachte, ein Kichern des reinsten Entzückens, und Jamie und Lord Dunsany sahen einander an und lächelten, dann wandten sie die Blicke ab, beide verlegen.

(„Die Fackeln der Freiheit“, copyright Diana Gabaldon & Barbara Schnell)