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Memorial Day — für die Gefallenen

Memorial Day — für die Gefallenen

„Nein. Allerdings“, fügte Roger ehrlicherweise hinzu und schob einen Kiefernzweig beiseite, der ihm die Hand mit duftendem Harz verklebte, „John Adams, Ben Franklin, all die großen Denker und Redner – sie riskieren genauso den Hals wie du … wie wir es tun.“
„Aye.“ Das Gelände stieg jetzt steil an, und sie sagten nichts mehr, während sie bergauf stiegen und sich über die Unebenheiten eines Geröllfeldes vorantasteten.
„Ich denke, ich kann nicht allein für die Idee der Freiheit sterben – oder Männer in den Tod führen. Jetzt nicht mehr.“
„Jetzt nicht mehr?“, wiederholte Roger. „Früher denn?“
„Aye. Als du und Brianna und die Kinder … als ihr dort wart.“ Roger erhaschte die flüchtige Handbewegung in Richtung der fernen Zukunft. „Denn da hätte das, was ich hier tat … es hätte etwas bedeutet, aye? Für euch alle – und für euch kann ich kämpfen.“ Sein Ton wurde sanfter. „Dazu bin ich schließlich geboren, aye?“
„Ich verstehe“, sagte Roger leise. „Aber das hast du doch immer schon gewusst, nicht wahr?“
Jamie stieß einen halb überraschten Kehllaut aus.
„Weiß nicht, wann es mir klar geworden ist“, sagte er mit einem Lächeln in der Stimme. „Vielleicht in Leoch, als ich gemerkt habe, dass ich die anderen Jungen zu Streichen anstiften konnte – und es auch getan habe. Vielleicht sollte ich das beichten?“
Roger tat das mit einer Handbewegung ab.
„Es wird etwas bedeuten, für Jem und Mandy – und für unsere Blutsverwandten, die nach ihnen kommen“, sagte er. Vorausgesetzt, Jem und Mandy werden alt genug, um selber Kinder zu bekommen, fügte er im Geiste hinzu, und Kälte erfüllte seine Magengrube.
„Wie alt warst du, als du das erste Mal miterlebt hast, wie ein Mensch getötet wurde?“, fragte Roger abrupt.
„Acht“, erwiderte Jamie ohne Zögern. „Als ich das erste Mal beim Rinderstehlen dabei war und es einen Kampf gegeben hat. Es hat mir nicht viel ausgemacht.“
Ganz plötzlich hielt Jamie an, und Roger musste zur Seite gehen, um nicht mit ihm zusammenzustoßen.
„Da“, sagte Jamie, und Roger folgte seiner Blickrichtung. Sie standen auf dem Gipfel einer kleinen Anhöhe. Die Bäume wichen hier zurück, und vor ihnen breiteten sich Fraser’s Ridge und die nördliche Seite der kleinen Talmulde aus, eine solide schwarze Masse vor dem Indigoblau des Abendhimmels. Doch in der Schwärze funkelten winzige Lichter; die Fenster und die Schornsteinfunken eines guten Dutzends Hütten.
„Es geht schließlich nicht nur um unsere Frauen und Kinder, nicht wahr?“, sagte Jamie und wies kopfnickend auf die Lichter. „Es geht auch um sie. Sie alle.“ Seine Stimme hatte einen seltsamen Unterton; eine Art Stolz – aber auch Bedauern und Resignation.
Sie alle.
Insgesamt dreiundsiebzig Haushalte, das wusste Roger. Er hatte die Bücher gesehen, die Jamie führte und in denen er mit peinlicher Sorgfalt die Einnahmen und das Wohlergehen jeder einzelnen Familie notierte, die auf seinem Land lebte – und in seinen Gedanken.
„’So sollst du nun sagen meinem Knechte David: So spricht der Herr Zebaoth: Ich habe dich genommen von den Schafhürden, dass du sein solltest ein Fürst über mein Volk Israel.’“ Das Zitat kam ihm in den Sinn, und er hatte es laut ausgesprochen, ehe er darüber nachdenken konnte.
Jamie holte hörbar Luft.
„Aye“, sagte er. „Schafe wären einfacher.“ Dann, abrupt: „Claire und Brianna sagen, der Krieg kommt in den Süden. Ich kann sie nicht beschützen, wenn er in unsere Nähe kommt.“ Er wies kopfnickend auf die fernen Funken, und Roger wusste, dass er mit „sie“ seine Pächter meinte – seine Leute. Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern rückte sich den Anglerkorb auf den Schultern zurecht und machte sich auf den Weg ins Tal.
Der Pfad wurde schmaler. Roger berührte Jamies Schulter, und er fiel einen Schritt zurück, um seinem Schwiegervater zu folgen. Der Mond ging heute spät auf, eine hauchdünne Sichel. Es war dunkel, und ein Hauch von Frost lag in der Luft.
„Ich helfe dir, sie zu beschützen“, sagte er an Jamies Rücken gewandt. Seine Stimme war schroff.
„Ich weiß“, sagte Jamie leise. Es folgte eine kurze Pause, als wartete Jamie darauf, dass er noch etwas sagte, und er begriff, dass er das tun sollte.
„Mit meinem Körper“, sagte Roger leise in die Nacht. „Und mit meiner Seele, wenn es nötig wird.“
Eine Sekunde sah er Jamies Umriss, sah ihn tief Luft holen, sah, wie sich seine Schultern senkten, als er wieder ausatmete. Sie gingen jetzt schneller; es war dunkel, und hin und wieder kamen sie vom Weg ab, und die Büsche zerrten an ihren nackten Beinen.
Am Rand ihrer Lichtung blieb Jamie stehen, um Roger aufholen zu lassen, und legte ihm die Hand auf den Arm.
„Die Dinge, die in einem Krieg geschehen – die Dinge, die man tut … man wird davon gezeichnet“, sagte er schließlich leise. „Ich glaube nicht, dass du verschont bleiben wirst, weil du Priester bist, das ist es, was ich sagen will, und es tut mir leid.“
Du bist davon gezeichnet. Und es tut mir leid.
Doch er sagte nichts; berührte nur flüchtig Jamies Hand auf seinem Arm. Dann zog Jamie seine Hand fort, und gemeinsam gingen sie schweigend heim.

© Diana Gabaldon & Barbara Schnell. Aus: Outlander, Band 9. Bitte verlinkt auf diesen Beitrag, aber kopiert ihn nicht.