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Linkshändige Charakterstudien

Linkshändige Charakterstudien

Zu Beginn seiner Vorbereitungen auf die Rolle als Jamie Fraser hat mich Sam Heughan gefragt, warum ich Jamie zum Linkshänder gemacht habe.
Normalerweise veröffentliche ich die Details unseres Dialogs nicht, obwohl ich nichts dagegen habe, über meine Vorgehensweise zu reden. Und es stört mich auch nicht, wenn mir die Leute bei der Arbeit zusehen. Aber ich weiß nicht, wie es Sam dabei geht, und er hat ein Recht auf seine Privatsphäre bei der Vorbereitung.
Sei’s drum, hier ist das, was ich ihm zum Thema Linkshändigkeit geschrieben habe:

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Hast du Zeit? 🙂

Es gibt mehrere Gründe.

Erstens: Linkshändigkeit wurde (in weiten Teilen Europas) als Zeichen dafür gesehen, dass Dämonen an der Wiege des Betreffenden gestanden haben und er jemand war, den man zumindest im Auge behalten sollte. Und weil man rote Haare ebenfalls für ein Zeichen des Teufels hielt, war ein rothaariger Linkshänder sehr verdächtig. (Jamie hat rote Haare, weil ich eine große Schwäche für rothaarige Männer habe. Und ich hatte einen rothaarigen Linkshänder zu Hause, den ich als Vorlage benutzen konnte.) Darum hat Jamies Lehrer ihn gezwungen, mit Rechts zu schreiben. Dadurch hat er ihm mit Sicherheit ziemlich die Handschrift verdorben, ihm aber auch eine Art Beidhändigkeit beigebracht (was von Vorteil sein könnte, wenn man ein Schwert benutzt).

(Behalte bitte im Hinterkopf, dass ich FEUER UND STEIN zum Üben geschrieben habe und nie vorhatte, es jemandem zu zeigen, geschweige denn, es zu veröffentlichen. Bedenke außerdem, dass ich nicht linear denke — in meinem Kopf sieht es eher aus wie ein Netz aus Lichterketten, ein Leuchten hier, ein Leuchten dort, und obwohl sie alle verbunden sind, kann ein Außenstehender die Verbindung erst sehen, wenn mehr Lichter angehen — und also nicht nach einem vorgegebenen Muster schreibe. Dadurch verwende ich oft kleine Details, deren Relevanz nicht gleich offensichtlich wird oder die ihre Verbindung zum Rest der Geschichte erst später entwickeln. Ich habe das alles also nicht im Voraus geplant, ich habe es selbst erst beim Zurückblicken gemerkt.)

Der zweite Grund hat etwas damit zu tun, wie das Clan-System funktionierte:

1) Die Nachfolge wurde durch Thanwahl bestimmt, nicht durch Blutlinienfolge. Es bedeutet im Grunde, dass der Clanführer aus einer kleinen Gruppe hochqualifizierter Männer gewählt wurde. Qualifikationskriterien waren unter anderem Blutverwandtschaft zum derzeitigen Anführer, persönlicher Einfluss, Charisma, Reichtum, Anzahl der Anhänger usw.. Der Than (oder Nachfolger) wurde vom Clan gewählt und war nicht notwendigerweise der nächste Verwandte des momentanen Clanführers.

2) Pflegekinder aufzunehmen war eine Möglichkeit, Allianzen zwischen Familien zu knüpfen; es garantierte ein gutes Verhältnis zwischen ihnen. Es kam oft vor, dass höher gestellte Familien ihre Söhne wegschickten, damit sie in einem anderen Haushalt die Regeln von Krieg und Politik lernten. Außerdem: Da die schottischen Highlands eine stammesbasierte Gesellschaft waren, war der Onkel mütterlicherseits oft eine besonders wichtige Bezugsperson für einen Jungen (da man nie wirklich wissen konnte, ob der Vater wirklich der Vater war, aber man wusste, dass der Bruder der Mutter das gleiche Blut hatte).

Jamie hatte also ein ganz traditionelles Verhältnis zu seinen beiden Onkeln mütterlicherseits. Aber hier kommen die Familienkomplikationen ins Spiel (auch die waren in den Highlands nicht selten):

1) Seine Mutter ist mit einem Mann durchgebrannt, der nicht nur zu einem anderen Clan gehörte (und noch nicht einmal ein befreundeter Clan, obwohl die Frasers und die MacKenzies auch nicht direkt im Krieg miteinander lagen. Aber sie hatten eine lange gemeinsame Grenze und stießen dort oft miteinander zusammen), sondern auch ein Bastard war. Damit stellte sie sich gegen ihre beiden Brüder, die sie traditionsgemäß gern benutzt hätten, um eine wertvolle Allianz mit einem anderen Clan zu knüpfen. Ihre Brüder sind alles andere als glücklich darüber.

2) Jamies Vater stimmt dann aber zu, ihn nach Leoch zu schicken, in der Hoffnung, die Kluft zwischen den Familien zu schließen (Jamies Mutter ist inzwischen gestorben) und Jamie die Vorteile zu verschaffen, die damit einher gehen, zu den MacKenzies zu gehören. (Weil Brian Fraser ein Bastard ist und so viel Abstand wie möglich zu seinem eigenen Vater halten will – denn der Alte Fuchs ist definitiv jemand, von dem man sich besser fern hält –, geht er davon aus, dass Jamie von dieser Seite der Familie nichts Gutes zu erwarten hat).

3) Colum und Dougal nehmen ihn auf. Weil es Tradition ist. Weil sie neugierig sind. Weil er der Sohn ihrer Schwester ist. Und weil ihnen klar geworden ist, dass Colum keine Kinder zeugen kann und Dougal bisher nur Töchter hat. Wenn sie Jamie also zum Than machen, ihn aber kontrollieren können …

Daher entwickelt sich ein Verhältnis zwischen Jamie und Dougal, das Dir vermutlich einiges liefert, was du benutzen kannst: Dougal und Jamie sind beide Linkshänder. Das heißt, sie haben eine besondere Beziehung entwickelt, in deren Zentrum der Schwertkampf steht. Ein linkshändiger Schwertkämpfer hätte normalerweise einen großen Vorteil. Zum, einen weil er mit Rechtshändern gut vertraut wäre, während diese noch nie einem linkshändigen Gegner gegenüber gestanden haben. Zum anderen, weil Linkshänder mit beiden Händen geschickt sein müssen und daher ihre Gegner überraschen können, indem sie die Schwerthand wechseln.

Weil Colum behindert war, fiel es Dougal zu, Jamie in den Kriegskünsten zu unterrichten. Und das hat er getan. Wenn man regelmäßig mit jemandem kämpft, lernt man, ihn zu beobachten. Und man lernt wie er tickt. Zu der Zeit, als Jamie achtzehn ist, kennt er Dougal verdammt gut. Und umgekehrt. Viel gegenseitiger Respekt, einiges an Zuneigung — und jede Menge Misstrauen. Dennoch herrscht zwischen ihnen eine Nähe, derer sich beide bewusst sind. Jamie ist der Sohn, den Dougal nie hatte, und die Bande von Ziehsöhnen zu ihren Pflegefamilien waren oft enger als die zu ihren eigentlichen Familien. (Das trifft zwar nicht auf Jamie zu, der eine sehr enge Beziehung zu seinem Vater hat. Aber als man ihm in FEUER UND STEIN begegnet, ist sein Vater erstens schon tot, zweitens hegt er große Schuldgefühle wegen der Umstände dieses Todes und drittens haben Dougal und Konsorten ihn gerade aus Fort William befreit und nach Frankreich außer Gefahr gebracht, also ist Dougal noch immer eine Art Ersatz-Vaterfigur für ihn.)

Aber weil die MacKenzie-Brüder tatsächlich schlau wie die Füchse sind, ist ihnen eingefallen, wie sie einen legitimen Nachfolger für Colum zeugen können. Dieser hat sich glücklicherweise als männlich und so hinreichend vielversprechend entpuppt, dass sie Jamie nicht mehr als Than brauchen, zumal ihnen klar geworden ist, dass sie ihn nicht kontrollieren könnten. So charismatisch, hochgewachsen, attraktiv und männlich, wie er ist, wollen sie ihn nicht in ihrer Mitte haben – aber er gehört immerhin zur Familie. Also wollen sie auch nicht, dass die Engländer ihn kriegen. (Wenn sie müssten, würden sie ihn selbst umbringen – aber die Engländer auf keinen Fall!)

Obwohl Jamie Dougal verdächtigt, ihn mit einer Axt angegriffen zu haben (was ihn kein bisschen überraschen würde), stehen die beiden also buchstäblich Rücken an Rücken, als sie von plündernden Grants angegriffen werden.

Und es ist Dougals genialer Einfall, Jamie mit Claire zu verheiraten, wodurch er sie rettet (Dougal hat zwar durchaus Ehrgefühl, aber für ihn gibt einfach nichts Wichtigeres als Colum und ihre gemeinsamen Ziele) und gleichzeitig Jamies Tauglichkeit als Than verringert. Er hätte zwar nichts dagegen, selbst das Bett mit Claire zu teilen, aber das stellt er hinter das große Ziel – und Jamie weiß das natürlich.

Ich weiß nicht, ob Du schon mit DIE GELIEHENE ZEIT angefangen hast, geschweige denn, es durch hast, aber da geschieht etwas ziemlich Drastisches zwischen Jamie und Dougal (es geht um Claire), das viel mit jener Basis ihrer frühen Beziehung zu tun hat – sich nämlich als linkshändige Kämpfer gegenüber zu stehen.

Jedenfalls ist das Fazit: Die beiden sind miteinander verbunden. Durch ein Gefühl nicht nur der Zuneigung (obwohl das auch mitschwingt), sondern der Bejahung sowohl ihrer Verwandtschaft als auch ihrer Gemeinsamkeiten. Sie sind beide Kämpfer, beide geborene Anführer, beide mit einem angeborenen Verantwortungsgefühl. Sie würden sich gegenseitig töten, wenn sie müssten – und beide wissen das –, aber sie würden es tief bereuen. Und diese Verbundenheit wurzelt in ihrer linken Hand. Beide sind mit dem Gefühl aufgewachsen, dass mit ihnen (in den Augen ihrer Umgebung) etwas nicht stimmt, und sie haben beide auf dieselbe Weise darauf reagiert – indem sie es zu ihrem Vorteil nutzen.

Das Gefährliche, wenn man mir eine Frage stellt, ist, dass ich sie beantworte 🙂

Ich hoffe, es ist etwas dabei, das Dir weiterhilft.

–D.

P.S. Nein, ich bin keine Linkshänderin. Aber ich hatte im College Fechtunterricht.

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Da habt ihr’s 🙂

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