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Eine Stimme für die Heimatlosen …

Eine Stimme für die Heimatlosen …

Wie schon öfter betont, diskutiere ich nicht öffentlich über Politik oder Religion, und das tue ich auch hier nicht. Doch auch wenn es so sein mag, dass die aktuelle Flüchtlingskrise ihre Wurzeln in einem oder beiden Phänomenen hat, finde ich, dass die menschliche Realität in diesem Fall wichtiger ist.
Meine deutsche Übersetzin (und Freundin) Barbara Schnell hat mich vor ein paar Tagen gefragt, ob ich etwas dagegen hätte, wenn sie eine kleine Szene aus FERNE UFER auf meiner deutschen Website postet (die sie für mich unterhält). Sie lebt sozusagen mit der Flüchtlingskrise vor der Haustür und war beeindruckt von der Stimme – oder vielmehr dem Fehlen einer Stimme –, die ihrer Meinung nach in dieser Szene so lebhaft zum Ausdruck kam.
Ich teilte diese Meinung, und so posten wir diese Stelle aus FERNE UFER parallel auf beiden Websites. Wenn Sie FERNE UFER noch nicht gelesen haben, wird hier ein Geheimnis der Handlung verraten, also lesen Sie die Stelle dann lieber nicht (aber vielleicht werfen Sie trotzdem einen Blick auf den Link am Fuß des Eintrags). Wenn Sie das Buch gelesen haben, sich aber nicht mehr an die Situation erinnern können …
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Claire ist gerade vor einem geistesgestörten Prediger gerettet worden, der dazu neigt, unkeusche Frauen zu ermorden. Jamies chinesischer Partner, Mr. Willoughby (a.k.a. Yi Tien Cho) hat dem Reverend mit seinen Jade-„Heilkugeln“ den Schädel eingeschlagen, und in der Folge kommt vieles ans Licht, einschließlich der Tatsache, dass es Yi Tien Cho war, der Jamie an die Zollagenten verraten hat, die auf der Suche nach ihm waren.
(Die Figur des Mr. Willoughby basiert auf einem tatsächlichen Flüchtling/Immigranten namens Hu. Dieser Chinese kam im achtzehnten Jahrhundert nach Edinburgh, wobei nicht geklärt ist, wie. Er sprach kein Englisch und verweigerte jeden Versuch, es zu lernen. Einige Schotten haben ihm geholfen, ihn mit Essen versorgt und ihm einen Schlafplatz zur Verfügung gestellt, doch er empfand die Kultur als derart fremd, dass er in einem Zustand ständiger Verzweiflung lebte und schließlich starb, ein Fremder bis zuletzt. Es war dieses grundlegende Gefühl der Heimatlosigkeit, eines Menschen, der keine Stimme mehr hat, das ich in dieser letzten Begegnung mit Claire heraufbeschwören wollte.)

 

Auszug aus FERNE UFER, Knaur Verlag, Oktober 2016

„Dann war es gar kein Engländer“, sagte ich. Meine Hände waren feucht, und ich wischte sie mir am Rock ab. „Ein englischer Name. Willoughby.“
„Nicht Willoughby“, sagte er scharf. „Ich bin Yi Tien Cho!“
„Warum!“, sagte ich und schrie beinahe. „Seht mich an, verdammt! Warum?“
Und er sah mich an. Seine Augen waren schwarz und so rund wie Murmeln, doch sie hatten ihren Glanz verloren.
„In China“, sagte er, „es gibt … Geschichten. Prophezeiung. Dass eines Tages Geister kommen. Jeder Angst vor Geist.“ Er nickte, einmal, zweimal, dann richtete er den Blick wieder auf die Gestalt am Boden.
„Ich verlasse China, rette mein Leben. Erwache viel später – ich sehe Geister. Überall Geister um mich herum“, sagte er leise.
„Großer Geist kommt – schreckliches weißes Gesicht, sehr schrecklich, Haar aus Feuer. Wird meine Seele essen, glaube ich.“ Seine Augen waren auf den Reverend geheftet gewesen, jetzt hoben sie sich zu meinem Gesicht, abwesend und reglos wie ein stehendes Gewässer.
„Ich habe recht“, sagte er schlicht und nickte erneut. Er hatte sich zwar länger nicht mehr rasiert, doch die Kopfhaut unter dem schwarzen Pelz glänzte im Licht der Lampe.
„Er isst meine Seele, Tsei-mi. Ich nicht mehr da, Yi Tien Cho.“
„Er hat Euch das Leben gerettet“, sagte ich. Er nickte erneut.
„Ich weiß. Besser ich sterbe. Besser sterben als Willoughby sein. Willoughby! Ptah!“ Er wandte den Kopf ab und spuckte aus. Sein Gesicht verzerrte sich plötzlich vor Wut.
„Er spricht meine Worte, Tsei-mi! Er isst meine Seele!“ Der Wutanfall schien genauso schnell zu verfliegen wie er gekommen war. Er schwitzte, obwohl es nicht übermäßig warm im Zimmer war. Mit zitternder Hand fuhr er sich über das Gesicht und wischte die Feuchtigkeit ab.
„Da ist Mann, sehe in Wirtshaus. Fragt nach Mac-Doo. Ich betrunken“, sagte er leidenschaftslos. „Will Frau, keine Frau kommt mit mir – lachen, sagen gelber Wurm, zeigen mit Finger …“ Er wies vage mit der Hand auf die Vorderseite seiner Hose und schüttelte den Kopf, so dass sein Zopf leise über die Seide raschelte.
„Ganz gleich, was gwao-fei tun, alles gleich für mich. Ich betrunken“, sagte er erneut „Geistermann will Mac-Doo, fragt, weiß ich. Sage ja, ich kenne Mac-Doo.“ Er zuckte mit den Schultern. „Nicht wichtig, was ich sage.“
Er starrte jetzt wieder auf den Prediger. Ich sah, wie sich die schmale schwarze Brust langsam hob, senkte … sich noch einmal hob, senkte … und sich nicht mehr regte. Im Zimmer war nichts zu hören, das Keuchen war verstummt.
„Stehe in Schuld“, sagte Yi Tien Cho. Er wies kopfnickend auf den leblosen Körper. „Ich bin entehrt, ich Fremder. Aber ich bezahle. Euer Leben für mein Leben, Erste Frau. Ihr sagt Tsei-mi.“
Er nickte noch einmal, dann wandte er sich zur Tür. Im Dunkel der Veranda raschelte Gefieder. Auf der Schwelle machte er noch einmal kehrt.
„Als ich erwache auf Dock, ich denke, Geister sind gekommen, sind überall ringsum“, sagte Yi Tien Cho leise. Seine Augen waren dunkel und ausdruckslos und von jeder Tiefe frei. „Aber ich geirrt. Ich bin es; ich bin der Geist.“
An der Glastür regte sich ein Luftzug, und er war fort. Das rasche, leise Geräusch filzbesohlter Schuhe entfernte sich über die Veranda, gefolgt vom Rascheln ausgebreiteter Flügel und einem leisen, klagenden Gwaaa!, das in den nächtlichen Geräuschen der Plantage verhallte.