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Ein Truthahn zu Thanksgiving

Ein Truthahn zu Thanksgiving

Diesen Auszug aus dem neunten Jamie-und-Claire-Buch habe ich zu Thanksgiving gepostet. Vor dem Beginn der Weihnachtszeit halten wir Ende November inne, um zu danken für das, was uns das Leben schenkt – Familie, Freunde, Freiheit und die Wunder der Natur. Das traditionelle Essen an diesem Tag ist Truthahn, daher danke ich Euch mit dieser Szene!

Danke!

–Diana

 

Der Aufstieg war steil, und sie stellte fest, dass sie keuchte und sie Schweißperlen hinter den Ohren hatte, obwohl es kühl war. Ihr Vater kletterte wie eh und je – wie eine Bergziege, ohne der geringste Zeichen von Anstrengung, doch zu ihrer Bestürzung merkte er, dass es ihr schwerfiel, und winkte sie beiseite auf einen kleinen Felsabsatz.

„Wir haben es nicht eilig, a nighean“, sagte er und lächelte sie an. „Hier gibt es Wasser.“ Sein Zögern war nicht zu übersehen, als er die Hand ausstreckte, ihre errötete Wange berührte und sie rasch wieder zurückzog.

„Entschuldige, Kleine“, sagte er und lächelte. „Ich habe mich noch nicht daran gewöhnt, dass du wirklich da bist.“

„Ich weiß, was du meinst“, sagte sie leise. Sie schluckte, streckte ihrerseits die Hand aus und berührte sein Gesicht, warm und glattrasiert, die schrägen Augen tiefblau wie die ihren.

„Och“, sagte er leise und zog sie sanft in seine Arme. Sie drückte ihn fest, und dann standen sie wortlos da und lauschten den Rufen der Raben, die über ihnen kreisten, und dem Wasser, das über die Felsen rann.

„[Gälisch]“, sagte er. So sanft, wie er sie umarmt hatte, ließ er sie wieder los und drehte sie zu einem winzigen Rinnsal, das durch eine Spalte zwischen zwei Felsen lief. Komm, trink etwas.

Das Wasser war eisig. Es schmeckte nach Granit und einem Hauch von Kiefernnadelterpentin.

Sie hatte ihren Durst gestillt und spritzte sich gerade Wasser auf die heißen Wangen, als sie spürte, wie sich ihr Vater plötzlich bewegte. Sofort erstarrte sie und blickte zu ihm hinüber. Auch er stand erstarrt da, hob aber Augen und Kinn ein wenig und wies auf den Hang über ihnen.

Jetzt sah – und hörte – sie es, das leise Rieseln der Erde, die sich löste und mit leisem Kiesel-Klickern zu ihren Füßen auf dem Felsen landete. Dann folgte Stille bis auf die Rufe der Raben. Diese waren lauter, dachte sie, als wären die Vögel nähergekommen. Sie sehen etwas, dachte sie.

Die Vögel waren nähergekommen. Ein Rabe schoss in die Tiefe und sauste erschreckend nah an ihrem Kopf vorbei, ein anderer schrie am Himmel.

Ein plötzliches Krachen auf dem Fels über ihnen ließ sie den Halt verlieren, und sie griff automatisch nach einer Handvoll junger Triebe, die aus den Felsen ragten. Gerade noch rechtzeitig, denn über ihr ertönten ein dumpfer Schlag und Rutschgeräusche, und quasi im selben Moment stürzte etwas Großes in einer Wolke aus Erde und Kies an ihr vorüber, prallte mit einer Explosion aus Atem, Blut und schierer Wucht neben ihr vom Felsen ab und landete krachend unten im Gebüsch.

„Seliger Michael, steh uns bei“, sagte ihr Vater auf Gälisch und bekreuzigte sich. Er richtete den Blick auf das Getöse unten im Gebüsch – Himmel, was immer es war, es lebte noch –, dann nach oben.

„[Mohawk]“, sagte eine aufgebrachte Stimme über ihr. Sie verstand zwar das Wort nicht, doch sie erkannte die Stimme und wurde von Freude überwältigt.

„Ian!“, rief sie. Oben herrschte absolute Stille, bis auf die Raben, die immer aufgeregter wurden.

„Seliger Michael, steh uns bei“, sagte eine verdatterte Stimme auf Gälisch, und im nächsten Moment landete ihr Vetter Ian auf dem schmalen Felsensims, wo er ohne erkennbare Schwierigkeiten das Gleichgewicht wiederfand.

„Du bist es tatsächlich!“, sagte sie. „Oh, Ian!“

„[Kusinchen]!“ Ungläubig lachend packte er sie und drückte sie fest. „Gott, du bist es!“ Er wich einen Moment zurück, um sich mit einem genauen Blick zu überzeugen, lachte noch einmal glücklich, küsste sie herzhaft und drückte sie erneut. Er roch nach Hirschleder, Porridge und Schießpulver, und sie konnte sein Herz an ihrer Brust schlagen spüren.

Mit halben Ohr hörte sie es rascheln, und als sie einander losließen, begriff sie, dass ihr Vater von dem Felsen gesprungen war und sich halb rutschend über das Geröll auf das Gebüsch zubewegte, in das der Hirsch – es musste ein Hirsch gewesen sein – gestürzt war.

Am Rand der Büsche hielt er kurz an – die Äste bewegten sich immer noch, doch die Bewegungen des verletzten Tiers wurden jetzt weniger heftig –, dann zog er seinen Dolch, murmelte eine gälische Bemerkung und watete vorsichtig in den Busch hinein.

„Das sind alles Rosenbüsche da unten“, sagte Ian, der einen Blick über ihre Schulter warf. „Aber ich glaube, er kommt noch rechtzeitig, um ihm die Kehle durchzuschneiden. A Dhia, das war ein schlechter Schuss, und ich hatte schon Angst, ich hätte … aber was zum Teuf– ich meine, wie kommt es, dass du hier bist?“ Er trat ein wenig zurück und ließ den Blick über sie hinweg wandern. Sein Mundwinkel kräuselte sich ein wenig, als er ihre Kniehose und die ledernen Wanderschuhe sah, dann verschwand das Lächeln, und sein Blick kehrte zu ihrem Gesicht zurück, diesmal besorgt. „Ist dein Mann nicht bei dir? Und die Kinder?“

„Doch, das sind sie“, beruhigte sie ihn. „Roger hämmert irgendetwas zusammen, und Jem hilft ihm, und Mandy ist im Weg. Warum wir hier sind …“ Der Tag und die Freude über das Wiedersehen hatten sie die jüngste Vergangenheit vergessen lassen, doch die unvermittelte Notwendigkeit einer Erklärung ließ die ganze Wucht der Situation über sie hereinbrechen.

„Keine Sorge, Kusinchen“, sagte Ian hastig, als er ihr Gesicht sah. „Es kann warten. Meinst du, du weißt noch, wie man einen Truthahn schießt? Keine Viertelmeile von hier trippelt ein ganzer Schwarm herum wie Tänzer bei einem Ceilidh.“

„Oh, das kann schon sein.“ Sie hatte die Vogelflinte an den Felsen gelehnt, um zu trinken; durch den Sturz war sie verrutscht, und sie stellte sie wieder hin. Das Rascheln im Gebüsch war verstummt, und sie konnte die Stimme ihres Vaters hören, die den Wind in Wortfetzen übertönte und das Grallochgebet sprach.

„Aber sollten wir Pa nicht mit dem Hirsch helfen?“

„Ach, es ist nur ein Jährling; er wird schneller damit fertig sein als du die Augen zukneifen kannst.“ Ian beugte sich auf der Felsenkante vor und rief in die Tiefe: „Ich gehe mit Brianna Truthähne schießen, a mathair-braither!“

Totenstille von unten, dann lautes Geraschel, und Jamies zerzauster Kopf tauchte plötzlich über den Rosenbüschen auf. Sein Haar war lose und verknotet, sein Gesicht war rot und blutete an mehreren Stellen, genau wie seine Arme und Hände, und seine Miene war missmutig.

„Ian“, sagte er in gemessenem Ton, aber so laut, dass er trotz der Waldgeräusche gut zu hören war. „Mac Ian … mac Ian!“

„Wir kommen zurück und helfen dir, das Fleisch zu tragen!“, rief Ian zurück. Er winkte fröhlich, packte die Vogelflinte, fing Briannas Blick auf und wies mit einem Ruck seines Kinns bergauf. Sie blickte in die Tiefe, doch ihr Vater war verschwunden, nur die Büsche wedelten unruhig hin und her.

Sie stellte fest, dass sie viel von ihrem Blick für die Wildnis verloren hatte; für sie sahen die Klippen unpassierbar aus, doch Ian kletterte problemlos wie ein Pavian hinauf, und nach kurzem Zögern folgte sie ihm, wenn auch langsamer. Hin und wieder rutschte sie ab und ließ es Erde regnen, während sie nach den Haltepunkten tastete, die ihr Vetter benutzt hatte.

„Ian mac Ian mac Ian?“, fragte sie, als sie oben ankam und anhielt, um sich die Erde aus den Schuhen zu schütteln. Ihr Herz schlug unangenehm heftig. „Ist das so, wie wenn ich Jem Jeremiah Alexander Ian MacKenzie nenne, weil ich böse auf ihn bin?“

„So ähnlich“, sagte Ian schulterzuckend. „Ian, Sohn des Ian, Sohn des Ian … es soll dich darauf hinweisen, dass Du eine Schande für Deine Vorfahren bist, aye?“ Er trug ein zerschlissenes, schmutziges Kalikohemd, dem jedoch die Ärmel fehlten, und sie sah eine große weiße Narbe in der Form eines vierzackigen Sterns auf seiner nackten braunen Schulter.

„Was war das?“, fragte sie und zeigte darauf. Er warf einen Blick darauf und winkte ab, dann machte er kehrt, um sie über den kleinen Felsenkamm zu führen.

„Ach, nichts Großes“, sagte er. „Ein verdammter Abenaki hat mich in Monmouth mit einem Pfeil getroffen. Denny hat ihn mit ein paar Tage später herausgeschnitten – Denzell Hunter“, fügte er hinzu, als er ihren verständnislosen Blick sah. „Rachels Bruder. Er ist Arzt, wie deine Mam.“

„Rachel!“, rief sie aus. „Pa sagt, du hast geheiratet – Rachel ist deine Frau?“

Ein Grinsen breitete sich über sein Gesicht.

„Ja“, sagte er schlicht. „Taing do Dhia.“ Dann wandte er hastig den Kopf, um zu sehen, ob sie ihn verstanden hatte.

„Das weiß ich noch. ‚Gott sei Dank‘“, beruhigte sie ihn. „Und noch einiges mehr. Roger hat den Großteil unserer Reise aus Schottland damit verbracht, unser Gaidhlig aufzufrischen. Hat mir Pa nicht auch erzählt, dass sie Quäkerin ist?“, fragte sie und reckte die Beine, um die Steine in einem Bach zu überqueren.

„Aye, das ist sie.“ Ians Blick war auf die Steine geheftet, doch sie hatte den Eindruck, dass er weniger glücklich und stolz klang als noch einen Moment zuvor. Doch sie ließ es auf sich beruhen; wenn es einen Konflikt gab – und nach allem, was sie über ihren Vetter wusste und über Quäker zu wissen glaubte, konnte sie sich nicht vorstellen, dass es keinen gab –, war dies nicht der richtige Zeitpunkt für Fragen.

Nicht, dass sich Ian von solchen Überlegungen aufhalten ließ.

„Aus Schottland?“, sagte er und sah sich nach ihr um. „Wann?“ Dann änderte sich seine Miene plötzlich, als er die Zweideutigkeit dieses „Wann“ begriff, und er ließ die Frage mit einer entschuldigenden Geste auf sich beruhen.

„Wir sind Ende Juni in Edinburgh aufgebrochen“, wählte sie erst einmal die einfachste Antwort. „Den Rest erzähle ich dir später.“

Er nickte, und eine Weile gingen sie weiter, manchmal zusammen, manchmal ging Ian vor. Er folgte Wildwechseln oder schlug Bögen um dichte Büsche. Sie war ganz zufrieden, ihm zu folgen, denn so konnte sie ihn ansehen, ohne ihn mit ihrer Neugier in Verlegenheit zu bringen.

Er hatte sich verändert – kein Wunder –, immer noch hochgewachsen und hager, aber ausgehärtet, ein Mann, der jetzt ganz zu sich selbst herangewachsen war, die langen Muskeln seiner Arme unter der Haut deutlich definiert. Sein braunes Haar war dunkler geworden, geflochten und mit einem Lederriemchen zusammengebunden, verziert mit etwas, das aussah wie ganz frische Truthahnfedern. Als Glücksbringer?, fragte sie sich. Er hatte den Bogen und den Köcher mitgenommen, die er oben auf der Klippe abgelegt hatte, und der Köcher schwang jetzt sacht auf seinem Rücken.

Doch das Wesen eines wohlgestalten Mannes erscheint nicht nur in seinem Gesicht, dachte sie amüsiert. Es liegt auch in seinen Gliedmaßen und Gelenken, sonderbarerweise, in seinen Hüften und den Handgelenken. Es liegt in seinem Gang, der Art, wie er den Hals trägt, dem Schwung seiner Hüften und Knie – Kleider verhüllen ihn nicht. Das Gedicht hatte sie immer an Roger erinnert, doch jetzt galt es auch für Ian und ihren Vater, so unterschiedlich die drei Männer auch waren.

Als sie an Höhe gewannen und sich die Bäume lichteten, frischte der Wind auf. Ian blieb stehen und winkte ihr mit einer kleinen Bewegung seiner Finger.

„Hörst du sie?“, hauchte er ihr ins Ohr.

Das tat sie, und ein wohliger Schauer lief ihr über den Rücken. Kurze, abgehackte Kläfflaute fast wie Hundegebell. Und etwas weiter entfernt eine Art wiederkehrendes Schnurren, irgendwo zwischen einer großen Katze und einem kleinen Motor.

„Am besten ziehst du dir die Strümpfe aus und reibst dir die Beine mit Erde ein“, flüsterte Ian und zeigte auf ihre Wollstrümpfe. „Die Hände und das Gesicht auch.“

Sie nickte, lehnte die Flinte an einen Baum und scharrte etwas trockenes Laub von einer Stelle am Boden zusammen, die feucht genug war, um sich damit einzureiben. Ian, dessen Haut beinahe die Farbe seiner Lederhose hatte, brauchte diese Tarnung nicht. Er entfernte sich lautlos, während sie sich Hände und Gesicht einrieb, und als sie den Kopf hob, konnte sie ihn zunächst nicht sehen.

Dann hörte sie eine Abfolge von Geräuschen wie eine rostige Türangel, die hin und her schwang, und plötzlich sah sie ihn. Er stand keine zwanzig Meter entfernt reglos hinter einem [Baum].

Im ersten Moment schien der Wald zu erstarren, und das leise Scharren und Rascheln verstummte. Dann erscholl ein wütendes Kollern, und als sie den Kopf wandte, so langsam sie konnte, sah sie den hellblauen Kopf eines Truthahns aus dem Gras auftauchen und scharf von rechts nach links spähen. Seine knallroten Kehllappen schwangen hin und her, während er nach dem Herausforderer suchte.

Sie richtete den Blick auf Ian, der die Hände als Trichter an seinen Mund gelegt hatte, doch er bewegte sich nicht und gab kein Geräusch von sich. Sie hielt die Luft an und sah wieder den Truthahn an, der erneut laut kollerte – diesmal antwortete ein anderer Hahn in einiger Entfernung. Der Truthahn vor ihren Augen blickte in Richtung dieses Geräuschs, hob den Kopf und kläffte, lauschte einen Moment, dann duckte er sich wieder ins Gras. Sie sah Ian an; er bemerkte ihre Bewegung und schüttelte kaum merklich den Kopf.

Sie warteten sechzehn Atemzüge lang – sie zählte mit –, dann kollerte Ian erneut. Der Truthahn tauchte aus dem Gras auf und stapfte über ein Stück offenes, mit Laub bedecktes Gelände, die Augen blutunterlaufen, die Brustfedern aufgeplustert und den Schwanz gefächert, so weit es ging. Er hielt einen Moment inne, um dem Wald Zeit zu geben, ihn in all seiner Pracht zu bewundern, dann stolzierte er unter schrillen, aggressiven Rufen weiter auf und ab.

Sie bewegte nur die Augäpfel, um den Blick von dem stolzierenden Hahn zu Ian schweifen zu lassen, der sich im Einklang mit den Bewegungen des Hahns den Bogen von der Schulter gleiten ließ, still hielt, einen Pfeil herauszog, still hielt und schließlich den Pfeil anlegte, als der Vogel zum letzten Mal wendete.

Zumindest hätte es das letzte Mal sein sollen. Ian spannte den Bogen, und im selben Moment, als er den Pfeil fliegen ließ, stieß er einen erschrockenen, ganz und gar menschlichen Aufschrei aus, weil über ihm ein großer, dunkler Gegenstand vom Baum fiel. Er fuhr zurück, und der Vogel verfehlte knapp seinen Kopf. Sie konnte das Tier jetzt sehen, eine Henne, die aufgeplustert vor Schreck mit ausgestrecktem Hals über das offene Gelände auf den nicht minder erschrockenen Hahn zurannte, der aussah, als hätte man ihm die Luft herausgelassen.

Sie hob automatisch die Flinte, zielte und feuerte. Sie traf daneben; beide Truthähne verschwanden zwischen Farnwedeln, und ihr Gackern klang wie ein kleiner Hammer, der einen Holzklotz trifft.

Die Echos verstummten, und das Laub des Baumes nahm sein Gemurmel wieder auf. Sie sah ihren Vetter an, der den Blick auf seinen Bogen richtete, dann auf die Lichtung, wo sein Pfeil absurd zwischen zwei Felsen steckte. Er sah sie an, und sie brachen beide in Gelächter aus.

„Aye, nun ja“, sagte er stoisch. „Das haben wir davon, dass wir Onkel Jamie alleine Rosen pflücken lassen.“

 

© 2017 Diana Gabaldon & Barbara Schnell. Bitte verlinkt auf diesen Beitrag, aber kopiert ihn nicht.