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„Das Meer der Lügen“ ist endlich wieder auf Deutsch zu haben

„Das Meer der Lügen“ ist endlich wieder auf Deutsch zu haben

Lange war der erste Lord-John-Roman „Das Meer der Lügen“ auf Deutsch nicht mehr erhältlich; jetzt bringt ihn der Knaur-Verlag im neuen Gewand heraus. Band zwei, „Die Sünde der Brüder“, gibt es schon; Band drei, „Die Fackeln der Freiheit“ – Lord Johns irisches Abenteuer in Begleitung von Jamie Fraser – erscheint im Herbst.

Dorothy Sayers und ihre aristokratische Spürnase Lord Peter Wimsey haben einen Ehrenplatz in meinem Bücherregal, und ich kann nicht sagen, dass es nicht auch an ihnen lag, dass Lord John Grey, Jamie Frasers (manchmal zu) treuer Freund und geistreicher Briefpartner, Held seiner eigenen Krimireihe wurde. Bisweilen taucht Jamie persönlich darin auf; präsent ist er eigentlich immer.

Nicht minder scharfsinnig ist Johns Mutter Benedicta Grey, die wir Euch in dieser Leseprobe vorstellen möchten. Wohl bekomm’s!

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Kapitel 11

Deutscher Rotwein

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Es gab, so schätzte Grey, annähernd tausend Weinhandlungen in London. Zog man allerdings nur jene in Betracht, die mit Qualitätsweinen handelten, war die Anzahl wohl schon eher zu bewältigen. Da sich eine kurze Nachfrage bei seinem eigenen Weinlieferanten als fruchtlos erwies, beschloss er, einen Expertenrat einzuholen.

„Mutter – als du letzte Woche deinen deutschen Abend gegeben hast, hast du da zufällig deutschen Wein aufgetischt?“

Die Gräfin saß in ihrem Boudoir und las ein Buch, die bestrumpften Füße gemütlich auf den zotteligen Rücken ihres Lieblingshundes gestützt, eines betagten Spaniels namens Eustace, der schläfrig ein Auge öffnete und freundlich hechelte, als Grey eintrat. Sie blickte bei Greys Erscheinen auf, schob sich die Lesebrille in die Stirn und blinzelte ein wenig, während sie aus der Welt der gedruckten Seiten auftauchte.

„Deutschen Wein? Nun, ja; wir hatten einen schönen Rheinwein zum Lamm. Wieso?“

„Keinen Rotwein?“

„Drei Sorten — aber keine davon war deutsch. Zwei Franzosen und einen ziemlich jungen Spanier, unreif, aber zu den Würstchen hat er gut gepasst.“ Benedicta fuhr sich erinnernd mit der Zungenspitze über die Oberlippe. „Hauptmann von Namtzen schien die Würstchen nicht zu mögen; sehr merkwürdig. Aber er ist ja auch Schwabe. Vielleicht habe ich die Würstchen versehentlich auf preußische oder sächsische Art zubereiten lassen und er hat es als Beleidigung aufgefasst. Die Köchin meint wohl, deutsch ist deutsch.“

„Die Köchin ist der festen Überzeugung, dass jeder, der kein Engländer ist, Froschfresser ist; weitere Unterschiede gibt es für sie nicht.“ Indem er die Vorurteile der Köchin fürs erste abtat, brachte Grey unter einem Haufen zerfledderter Bücher und Manuskripte einen Hocker zum Vorschein und setzte sich darauf.

„Ich bin auf der Suche nach einem deutschen Rotwein – sehr reif, fruchtiges Bouquet, ungefähr von der Farbe dieser Rosen.“ Er wies auf die Vase karmesinroter Rosen, die ihre Blütenblätter auf dem Mahagonisekretär seiner Mutter verstreuten.

„Wirklich? Ich glaube nicht, dass ich schon je einen deutschen Rotwein zu Gesicht bekommen habe, ganz zu schweigen davon, dass ich ihn getrunken hätte — obwohl es wahrscheinlich welche gibt.“ Die Gräfin ließ das Buch auf ihren Schoß sinken. „Schmiedest du Pläne für dein Abendessen? Olivia hat gesagt, du hättest Joseph eingeladen, mit dir und deinen Freunden zu dinieren – das war sehr liebenswürdig von dir, mein Guter.“

Grey fühlte sich, als hätte man ihm plötzlich einen Schlag in die Magengrube versetzt. Himmel, er hatte ganz vergessen, dass er Trevelyan eingeladen hatte.

„Aber warum in aller Welt willst du deutschen Wein?“ Die Gräfin legte den Kopf zur Seite und zog neugierig die Augenbrauen hoch.

„Das ist eine andere Angelegenheit, die nichts damit zu tun hat“, sagte Grey hastig. „Beziehst du deinen Wein immer noch bei Canel’s?“

„Zum Großteil. Dann und wann bei Gentry’s, und manchmal auch bei Hemshaw and Crook. Aber lass mich überlegen …“ Sie fuhr sich langsam mit der Zeigefingerspitze über den Nasenrücken, dann drückte sie auf ihre Nasenspitze, weil sie zum gewünschten Schluss gekommen war.

„Es gibt eine neuere Weinhandlung. Ziemlich klein, in der Fish Street. Keine besonders angenehme Gegend, aber sie führen einige ganz außergewöhnliche Weine; Dinge, die man nirgendwo anders findet. An deiner Stelle würde ich dort einmal nachfragen. Sie heißen Fraser & Cie.“

„Fraser?“ Es war schließlich ein recht häufiger schottischer Name. Dennoch verspürte er bei seinem bloßen Klang einen Stoß der Aufregung. „Ich werde mich dort erkundigen. Danke, Mutter.“ Er beugte sich vor, um ihr einen Kuss zu geben, und atmete dabei ihr charakteristisches Parfum ein: Maiglöckchen mit Druckerschwärze vermischt, wobei der letztere Duft intensiver war als gewöhnlich, weil das Buch auf ihrem Schoß noch so neu war.

„Was liest du denn da?“, fragte er und warf einen Blick darauf.

„Oh, der gute Edmund hat sich wieder einmal an leichter Unterhaltung versucht“, sagte sie und hielt ihm die Titelseite entgegen: Eine philosophische Erörterung unserer Vorstellungen von Schönheit und Wahrhaftigkeit von Edmund Burke. „Ich glaube nicht, dass es dir gefallen würde – viel zu frivol.“ Sie ergriff ihr silbernes Taschenmesser und schnitt zielsicher die nächste Seite auf. „Ich habe aber eine Neuausgabe von John Clellands Fanny Hill , falls du auf der Suche nach Lesestoff bist. Du weißt schon, Memoiren eines Freudenmädchens ?“

„Sehr amüsant, Mutter“, sagte er nachsichtig und kratzte Eustace hinter den Ohren. „Hast du vor, den Clelland zu lesen, oder willst du ihn nur kunstvoll im Salon platzieren, um bei Lady Roswell einen Schockzustand hervorzurufen?“

„Oh, was für eine gute Idee!“, sagte sie und warf ihm einen beifälligen Blick zu. „Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Unglücklicherweise steht der Titel nicht auf dem Deckblatt, und sie ist viel zu dumm und uninteressiert, um einfach so ein Buch in die Hand zu nehmen und es aufzuschlagen.“

Sie streckte den Arm aus und kramte in dem Bücherstapel auf ihrem Sekretär herum. Sie zog ein ansehnliches, in Kalbsleder gebundenes Quartbändchen hervor und reichte es ihm.

„Es ist eine Spezialausgabe“, erklärte sie. „Unbedruckter Rücken, neutrale Titelseite. Damit man es in langweiliger Gesellschaft lesen kann, vermute ich, ohne Verdacht zu erregen – zumindest, solange man die Illustrationen bedeckt hält. Aber warum nimmst du es nicht? Ich habe es schon gelesen, als es erschienen ist, und du brauchst doch ein Geschenk für Josephs Junggesellenabschied. Es kommt mir doch sehr angemessen vor, wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was ich von solchen Anlässen höre.“

Er war im Begriff gewesen aufzustehen, hielt aber inne, das Buch in der Hand.

„Mutter“, sagte er vorsichtig. „Was Mr. Trevelyan betrifft. Glaubst du, Livy ist sehr in ihn verliebt?“

Da blickte sie ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, schloss dann ganz langsam ihr Buch, nahm die Füße von Eustaces Rücken und setzte sich gerade hin.

„Wieso?“, fragte sie in einem Tonfall, dem es gelang, die gesamte Wachsamkeit und den ganzen zynischen Argwohn gegenüber dem männlichen Geschlecht auszudrücken, der die natürliche Gabe einer Frau ist, die vier Söhne aufgezogen und zwei Ehemänner begraben hat.

„Ich … habe Grund zu der Annahme, dass Mr. Trevelyan … eine irreguläre Beziehung hat“, sagte er vorsichtig. „Es ist aber noch nicht ganz sicher.“

Die Gräfin atmete tief ein, schloss einen Moment die Augen, dann öffnete sie sie und betrachtete ihn mit einem klaren, blassblauen Blick voller Pragmatismus, der nur ganz schwach mit Bedauern versetzt war.

„Er ist ein Dutzend Jahre älter als sie; es wäre nicht nur ungewöhnlich, sondern sogar hochgradig bemerkenswert, wenn er nicht schon mehrere Mätressen gehabt hätte. Männer in deinem Alter haben schließlich ihre Affären.“ Sie senkte kurz die Wimpern als sanfte Anspielung auf den vertuschten Skandal, der für seine Versetzung ins schottische Exil nach Ardsmuir gesorgt hatte.

„Ich möchte doch hoffen, dass diese Ehe ihn dazu bewegt, derartige Liäsonen aufzugeben, doch wenn nicht …“ Sie zuckte mit den Achseln und ließ plötzlich müde die Schultern hängen. „Dann vertraue ich darauf, dass er sich diskret verhält.“

Zum ersten Mal kam Grey auf den Gedanken sich zu fragen, ob entweder sein Vater oder ihr erster Mann, Hauptmann DeVane … aber dies war nicht der Zeitpunkt für derartige Spekulationen.

„Ich bin mir sicher, dass sich Mr. Trevelyan höchst diskret verhält“, sagte er mit einem kleinen Räuspern. „Ich habe mich nur gefragt, ob … ob es Livy das Herz brechen würde, sollte … irgendetwas vorfallen.“ Er hatte seine Cousine gern, wusste aber nur sehr wenig über sie; sie war erst bei seiner Mutter eingezogen, als er selbst bereits sein erstes Offizierspatent angenommen hatte.

„Sie ist sechzehn“, sagte seine Mutter trocken. „Signor Dante und seine Beatriz in allen Ehren, aber die meisten sechzehnjährigen Mädchen sind nicht zu großer Leidenschaft imstande. Sie glauben nur, es zu sein.“

„Also –„

„“Also“, schnitt sie ihm das Wort ab. „Olivia weiß nicht das Geringste über ihren zukünftigen Ehemann, außer dass er reich ist, sich gut kleidet, nicht schlecht aussieht und ihr große Aufmerksamkeit zukommen lässt. Sie weiß weder etwas über seinen Charakter noch über die wirkliche Natur einer Ehe, und wenn sie im Augenblick ernsthaft in etwas verliebt ist, ist es ihr Hochzeitskleid.“

Bei diesen Worten verspürte Grey Erleichterung. Gleichzeitig war ihm jedoch bewusst, dass eine Absage der Hochzeit seiner Cousine leicht einen Skandal verursachen konnte, der die Kontroverse um Pitts Entlassung als Premierminister vor zwei Monaten weit in den Schatten stellen würde – und ein Skandal fragte nicht nach Gut oder Böse; ob sie unschuldig war oder nicht, er würde Olivia anhaften und der endgültige Ruin ihrer Aussichten auf eine anständige Partie sein.

„Ich verstehe“, sagte er. „Sollte ich also mehr herausfinden – „

„Dann solltest du es für dich behalten“, sagte seine Mutter bestimmt. „Falls sie nach der Hochzeit entdecken sollte, dass mit ihrem Mann etwas nicht stimmt, wird sie es ignorieren.“

„Manche Dinge kann man aber nur sehr schwer ignorieren, Mutter“, sagte er etwas heftiger als beabsichtigt. Sie sah ihn scharf an, und die Luft um ihn herum schien sich plötzlich zu verfestigen, als gäbe es nichts mehr zum Atmen. Ihr Blick traf den seinen direkt und verharrte einen schweigenden Augenblick dort. Dann wandte sie den Blick ab und legte ihren Burke beiseite.

„Wenn sie zu dem Schluss kommt, dass sie es nicht ignorieren kann“, sagte sie ungerührt, „wird sie der Überzeugung sein, dass ihr Leben ruiniert ist. Mit etwas Glück wird sie irgendwann ein Kind bekommen und feststellen, dass es nicht so ist. Kusch, Eustace.“ Sie schob den dösenden Spaniel mit dem Fuß beiseite, erhob sich und warf dabei einen Blick auf die kleine Standuhr auf dem Tisch.

„Geh und forsche nach deinem deutschen Wein, John. Die verflixte Schneiderin kommt um drei zur Anprobe von Livys Kleid – ich hoffe zum absolut allerletzten Mal.“

„Ja. Aber … ja.“ Er stand einen Moment verlegen da und wandte sich dann zum Gehen, blieb jedoch an der Tür des Boudoirs plötzlich stehen und drehte sich um, weil ihm eine Frage in den Sinn kam.

„Mutter?“

„Mm?“ Die Gräfin griff ziellos nach diversen Gegenständen und blickte kurzsichtig unter ihr Stickzeug. „Siehst du meine Brille, John? Ich weiß genau, dass ich sie vorhin hatte.“

„Auf deiner Haube“, sagte er und lächelte unwillkürlich. „Mutter – wie alt warst du, als du Hauptmann DeVane geheiratet hast?“

Sie schlug sich mit einer Hand vor den Kopf, als wollte sie die verirrte Brille festhalten, bevor sie abheben konnte. Ihre Miene war unbewacht, denn sie wurde von seiner Frage überrumpelt. Er konnte sehen, wie die Wellen der Erinnerung ihre Züge überspülten, mit Glück und Bedauern versetzt. Ihre Lippen spitzten sich ein wenig und verbreiterten sich dann zu einem Lächeln.

„Fünfzehn“, sagte sie. Das kleine Grübchen, das nur dann zum Vorschein kam, wenn etwas sie zutiefst amüsierte, zwinkerte auf ihrer Wange. „Ich hatte ein bildschönes Kleid.“

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(c) Diana Gabaldon & Barbara Schnell

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