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„Daily Lines“: Gallbeeren, Chinarinde und Gerede

„Daily Lines“: Gallbeeren, Chinarinde und Gerede

Bis zum Nachmittag hatte ich große Fortschritte mit meinen Medikamenten
gemacht, drei Fälle von Giftsumach-Ausschlag behandelt, einen gebrochenen Zeh (weil jemand in einem Wutanfall nach einem Maultier getreten hatte) und einen Waschbärenbiss (keine Tollwut; der Jäger hatte den Waschbären aus einem Baum geschossen, ihn für tot gehalten und aufheben wollen, um dann festzustellen, dass er mitnichten tot war. Der Waschbär war zwar wütend, aber nicht im ansteckenden Sinne).
Jamie jedoch war noch erfolgreicher gewesen. Den ganzen Tag waren Menschen zur Baustelle gekommen, ein unablässiger Strom von Nachbarschaft und Neugier. Die Frauen waren bei mir geblieben, um über die MacKenzies zu plaudern, und die Männer waren mit Jamie über die Baustelle spaziert und hatten bei ihrer Rückkehr versprochen, hier und dort einen Tag lang mitzuhelfen.
»Wenn Roger Mac und Ian mir morgen helfen, Holz zu transportieren, kommen die Leslies am nächsten Tag und helfen mir bei den Balken für die Fußböden. Mittwoch verlegen wir die Kaminplatte und segnen sie, Sean McHugh und ein paar seiner Jungs montieren Freitag mit mir den Fußboden, und am nächsten Tag fangen wir mit dem Ständerwerk für die Wände an; MacLeod sagt, er hat einen halben Tag Zeit für mich, und Hiram Crombies Sohn Joe sagt, er und sein Halbbruder können dabei auch mithelfen.« Er lächelte mich an. »Wenn uns der Whisky nicht ausgeht, hast du in zwei Wochen ein Dach über dem Kopf, Sassenach.«
Ich blickte skeptisch von unserem steinernen Fundament zum wolkengesprenkelten Himmel hinauf.
»Ein Dach?«
»Aye, nun ja, wahrscheinlich ein Stück Segeltuch«, räumte er ein. »Trotzdem.« Er richtete sich auf und reckte sich mit einer kleinen Grimasse.
»Warum setzt du dich nicht einen Moment?«, schlug ich vor und betrachtete sein Bein. Er humpelte merklich, und das Bein war wie ein bunter Flickenteppich aus Rot und Lila, unterteilt durch die schwarzen Stiche meiner Reparatur.
»Amy hat uns einen Krug Bier dagelassen.«
»Nachher vielleicht«, sagte er. »Was machst du denn gerade, Sassenach?«
»Ich bereite Gallbeerensalbe für Lizzie Beardsley zu und dann einen Saft für die Bauchschmerzen ihres Jüngsten – weißt du, ob er schon einen Namen hat?«
»Hubertus.«
»Was?«
»Hubertus«, wiederholte er lächelnd. »Das hat mir zumindest Kezzie vorgestern erzählt. Er sagt, es ist zu Ehren von Monikas verstorbenem Bruder.«
»Oh.« Lizzies Vater, Joseph Wemyss, war in zweiter Ehe mit einer liebenswerten, nicht mehr ganz jungen Deutschen verheiratet, und Monika, die selbst keine Kinder hatte, war eine unerschütterliche Großmutter für die wachsende Kinderschar der Beardsleys geworden. »Vielleicht können sie ihn ja kurz Bertie nennen.«
»Hast du keine Chinarinde mehr, Sassenach?« Er wies mit erhobenem Kinn
auf die offene Arzneitruhe, die ich neben ihm auf den Boden gestellt hatte.
»Brauchst du sie nicht für Lizzies Tonikum?«
»Doch«, sagte ich und war ziemlich überrascht, dass ihm das aufgefallen war. »Aber ich habe den letzten Rest vor drei Wochen aufgebraucht und habe von niemandem gehört, der nach Wilmington oder New Bern fährt und mir Nachschub besorgen könnte.«
»Hast du das Roger Mac gegenüber erwähnt?«
»Nein? Warum er?«, fragte ich verwundert.
Jamie lehnte sich an den Grundstein und setzte diese unverhohlen geduldige Miene auf, die ausdrücken soll, dass die angesprochene Person nicht besonders helle ist. Ich prustete und warf mit einer Gallbeere nach ihm. Er fing sie und betrachtete sie kritisch.
»Kann man sie essen?«
»Amy sagt, Bienen mögen die Blüten«, sagte ich skeptisch und schüttete eine
große Handvoll der dunkelroten Beeren in meinen Mörser. »Aber es gibt vermutlich einen Grund, warum man sie Gallbeeren nennt.«
»Ah.« Er warf sie wieder in meine Richtung, und ich duckte mich. »Du hast
mir selbst erzählt, Sassenach, dass Roger Mac gestern zu dir gesagt hat, dass er wieder Prediger sein will. Was würdest du denn als Erstes tun«, fuhr er geduldig fort, als er keine Spur von Begreifen in meinem Gesicht sah, »wenn das dein Ziel wäre?«
Ich löffelte einen großen Klecks blassgelbes Bärenschmalz aus einem Töpfchen in den Mörser, und ein Teil meines Verstandes debattierte noch, ob ich etwas Weidenrindentee dazugeben sollte, während der Rest über Jamies Frage nachdachte.
»Ah«, sagte ich meinerseits und zeigte mit dem Stößel auf ihn. »Ich würde
alle aufsuchen, die damals sozusagen zu meiner Gemeinde gehört haben, und sie wissen lassen, dass Mackie Messer wieder umgeht.«
Er warf mir einen besorgten Blick zu, doch dann schüttelte er den Kopf und
verwarf das Bild, das ich in ihm heraufbeschworen hatte, wie auch immer es ausgesehen haben mochte.
»Das würdest du also tun«, sagte er. »Und dich vielleicht auch den Menschen vorstellen, die nach deiner Abreise nach Fraser’s Ridge gekommen sind.«
»Und innerhalb von ein paar Tagen würde jeder in Fraser’s Ridge – und vermutlich der halbe Männerchor von Salem – davon wissen.«
Er nickte liebenswürdig. »Aye. Und sie wüssten alle, dass du Chinarinde
brauchst, und wahrscheinlich hättest du sie innerhalb eines Monats.«

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Auszug aus „Das Schwärmen von tausend Bienen“, (c) Diana Gabaldon & Barbara Schnell. Bitte achtet das Urheberrecht und verlinkt auf diesen Beitrag, aber kopiert ihn nicht. Das Buch erscheint am 23.11.2021 im Knaur Verlag.