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Schwarzer Fluss, nackter Mann

Schwarzer Fluss, nackter Mann

Damit das wirklich klar ist: Ich habe den nackten Mann gar nicht gesehen, als ich ein Foto von ihm gemacht habe.
„Hast du gerade diesen nackten Mann fotografiert?“, hat mein Mann verblüfft gesagt.
„Welchen nackten Mann?“, habe ich noch verblüffter gesagt.
„Den da“, sagte er und zeigte über meine Schulter hinweg zum Ufer. Tatsächlich.
Ich hatte ein Foto der Bootsvermietung mit dem hübschen Binsendach gemacht, von der wir gerade abgelegt hatten, um eine Tour auf dem Black River in Jamaica zu unternehmen (der Touristenführer sagt, er heißt so, weil sich an seinem Grund eine dicke Lage verrottendes Torfmoos befindetas Wasser ist klar, sagt er – der Grund ist schwarz. Außerdem setzt es bei der Verrottung Methangas frei, das sich unter Wasser sammelt. Wenn diese Gasblasen plötzlich an die Oberfläche steigen, werden sie oft durch Blitze entzündet, und – so der Führer – „ein paarmal im Jahr geht der ganze Sumpf in Flammen auf.“ Ich vermute, den Krokodilen ist es egal, aber für die Leute, die in der Nähe wohnen, muss das ziemlich lästig sein.)
Jedenfalls war die Bootsvermietung durch eine kleine Uferlichtung von den Rohrkolben und den Mangroven getrennt. Auf dieser Lichtung befanden sich ein kleiner Schuppen, ein Boot, das auf dem Trockenen lag, und … ein nackter Mann. Ich weiß nicht, ob er gerade sein Boot an Land geschoben hatte, ob er schwimmen war oder vielleicht seine Wäsche wusch, aber da war er nun. Und er war ein ziemlich gutaussehender Mann, sehr hochgewachsen und muskulös, ziemlich jung und wirklich … nun ja. Sagen wir einfach, dass ihm Lord Johns Bewunderung sicher gewesen wäre.
Ich habe ihn beim Fotografieren gar nicht gesehen, und ich war mir auch erst sicher, dass er überhaupt mit auf dem Bild war, als ich es mir später angesehen habe. Er hat aber mit Sicherheit an diesem Abend einiges zur Unterhaltung beim Essen beigesteuert.

Der Black River (inklusive seiner interessanten Flora und – hust – Fauna) war der ersten Programmpunkt eines Tages voller Abenteuer. Die Black River Safari, wie diese Tour heißt, hat große Ähnlichkeit mit der Dschungelfahrt in Disneyland, nur mit echten Krokodilen. Na ja, es gibt auch keine Kopfgeldjäger oder Riesenpythons, aber man kann ja nicht alles haben. Und die Touristenführer schießen auch nicht mit Spielzeugpistolen auf die Reptilien; sie fahren in ihre Nähe, stellen den Motor ab und locken die Krokodile mit rohem Hühnchenfleisch an (versichern einem aber, dass sie den Krokodilen nicht so viel geben, dass sie selbst zu jagen aufhören. Ich bin mir da nicht so sicher; die Krokodile haben Namen – das auf dem ersten Bild ist Josephine und daneben, glaube ich, George – und sie wissen eindeutig, dass es Mittagessen gibt, wenn ein Boot auf ihren Platz an der Sonne zuhält).
Vielleicht lag es an der Jahreszeit, aber es gab überraschend wenige Vögel auf dem Fluss. Wir haben einen Blaureiher und ein paar Silberreiher gesehen (obwohl man uns mitgeteilt hat, dass sich bei Anbruch der Nacht etwa vierzigtausend Silberreiher ihre Schlafplätze in den Mangroven am Fluss suchen), aber das war es mehr oder weniger. Viele Mangroven haben wir allerdings nicht gesehen – die Bilder füge ich nicht nur aus landschaftlichem Interesse an, sondern zur Illustration jenes Teils von FERNE UFER, in dem Claire in einem Mangrovensumpf an Land gespült wird. So in etwa hätte es dort ausgesehen – obwohl sie glücklicherweise nur vieräugigen Fischen (und dem einen oder anderen merkwürdigen jüdischen Naturphilosophen) begegnet ist und keinen Krokodilen.
Ja, es gibt viele Krokodile im Black River. Und (hieß es) Tarpune, die über hundert Kilo schwer werden, weil sie nicht gut schmecken und sie daher niemand angelt. Allerdings (hieß es) belästigen Tarpune keine Menschen (das interessiert mich nicht; ich möchte nicht in dunklem Wasser auf etwas stoßen, das über hundert Kilo wiegt, und wenn es Hulk Hogan ist), und Krokodile benötigen Wärme, um ihr Futter zu verdauen, also sind sie tagsüber nicht gefährlich (als ob irgendjemand nachts in einem Gewässer schwimmen geht, das Black River heißt. Schon klar …)
Angesichts der Tatsache, dass es in Jamaica kaum Straßenschilder gibt, braucht man unbedingt einen Fahrer, wenn man als Tourist unterwegs ist und nicht im Great Morass enden möchte (der seinem Namen, der große Morast, durchaus Ehre macht: ein ziemlich tiefes, schmales Tal voller Zuckerrohrfelder und Dschungelwälder, an denen eine schmale, kurvige Straße entlangführt). Wir hatten das große Glück, einen Fahrer namens Tony zu haben, der seit dreißig Jahren für das Tensing Pen Resort (wo wir gewohnt haben) arbeitet und nicht nur wusste, wohin wir wollten, sondern auch, wo man unterwegs auf die Toilette gehen konnte (in einem winzigen Supermarkt in Whitehouse, dessen Toilette zu den 75% derartiger Örtlichkeiten in Jamaica zählt, die nicht funktionieren) und wo man auf die Schnelle etwas zu essen bekam („Juici Patties“, ein Fastfood-Lokal, das auf Teigtaschen spezialisiert ist – eine der Säulen der jamaicanischen Küche, gefüllt mit Käse, Rindfleisch, Hühnchen oder Hummer, oft mit Curry gewürzt. Sie waren hervorragend, und das Lokal hatte etwas Originelles an sich, das noch verstärkt wurde durch das Autowrack auf dem Parkplatz, aus dessen antiken, aber funktionierenden Lautsprechern es ohrenbetäubend „I WANNA BE A BILLIONAIRE SO FUCKIN‘ BAAAD“ dröhnte, als ich daneben aus dem Auto stieg. Jede Ortschaft hat dort einen Straßenmarkt, der aus ein paar Dutzend winzigen Ständen mit den Spezialitäten der Gegend besteht. In Whitehouse, sagte Tony, kommt der Großteil des Fischs an Land – die Köche der Hotels stehen um drei Uhr nachts auf und fahren nach Whitehouse, um Hummer und Fisch von den Booten zu kaufen, die in der Morgendämmerung einlaufen. „Das da ist ein schöner Dorsch“, merkte er beifällig an, als wir an einer Frau vorbeikamen, die auf einer Kiste saß, ein Filetiermesser in der Hand und besagten Dorsch einladend auf dem Schoß.

Die Fahrt von Negril, wo wir wohnten, zum Black River ist weit, so dass wir rechts und links der Straße viel von Jamaica gesehen haben, einschließlich unzähliger winziger Esslokalitäten. Natürlich gibt es auch reguläre Restaurants, entweder per se oder als Teil einer Ferienanlage, aber es gibt Tausende – wirklich Tausende – kleiner Hütten mit ein oder zwei Picknicktischen, die das unvermeidliche Grillhuhn verkaufen, Eintopf, Muschelsalat und Red Stripe Bier. Vor allem an der Küste hat jeder, der auch nur einen Meter Strand für sich beanspruchen kann, einen Tisch und einen Grill.
Als wir höher in die Berge fuhren, änderte sich das Essen, und wir sahen immer häufiger Gruppen von Frauen, die Tony „Krabbenweiblein“ nannte, an der Straße sitzen; Frauen, die Flusskrebse angeln, sie in Gewürzbrühe kochen und dann am Straßenrand sitzen und die Schalentiere in Eimern oder Spitztüten aus Pappe verkaufen. Normalerweise bin ich zwar immer dafür zu haben, regionale Spezialitäten zu probieren (ich habe auch schon Seeigel und Quallen gegessen – Letzteres war so, als würde man fritierte Gummis essen, ersteres war zwar breiig, aber lecker), aber auf die Flusskrebse haben wir verzichtet, weil wir a) keinen Hunger hatten und b) weiter wollten, denn der Black River war nur das erste Abenteuer des Tages.
Als nächstes kamen die YS-Fälle – die so heißen, weil sie im YS-Fluss liegen, von dem allerdings niemand weiß, warum er so heißt. Allerdings lautet eine Vermutung, dass es vom gälischen „wyes“ kommt, was kurvig oder gewunden bedeutet. (Im achtzehnten Jahrhundert lebten auf Jamaica viele gälischsprachige Schotten, die man entweder als Zwangsarbeiter dorthin deportiert hatte oder die als Plantagenaufseher arbeiteten.)
Man zahlt Eintritt, wird auf ein Shuttle gepackt – das aus einem betagten Traktor mit einem Pritschenanhänger besteht, der mit Bänken und einem Sonnendach ausgestattet ist – und tuckert über eine Straße, die sich am Flussufer entlang schlängelt, vorbei an herrlichen Wiesen mit Red Poll Rindern (wir haben gefragt, was es für Rinder waren, weil wir diese Rasse noch nie gesehen hatten. Mein verstorbener Schwiegervater Max war Rinderexperte, und egal, wohin wir mit ihm gegangen sind, Kühe haben ihn immer angezogen wie ein Magnet. Er konnte überall Kühe finden, und jetzt fallen sie uns unterwegs auch immer auf).
Außer dem Wasserfall gibt es dort noch eine Seilrutsche. Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal eine Seilrutsche aus der Nähe gesehen haben – ich bis dahin nicht. Die Idee ist, dass die Passagiere für den Fall des Zusammenpralls mit einem Baum Schutzkleidung anlegen (gepolsterte Weste und Helm) und dann mit einer Art Seilrolle an einer überdimensionalen Wäscheleine befestigt werden, die von einem hohen Punkt im Dschungel zu einem niedrigeren Punkt verläuft. Man schubst sie von einer Plattform, und sie rauschen durch die Leere.
Nein, wir haben es nicht getan . Meine Abenteuerlust hat ihre Grenzen. Aber ich hatte meinen Spaß daran, die Fauna am Wasserfall zu beobachten (es gibt dort drei klare Wasserbecken, in denen man schwimmen kann), darunter den ziemlich kräftigen Herrn in der ziemlich kleinen Badehose, die Damen, die die Sonnenmilch auf ihrem Rücken vergessen haben, und die Seilakrobaten, die hin und wieder kreischend darüber hinweg rauschten.
Wir haben uns nicht lange am Wasserfall aufgehalten. Haben uns ein köstliches Häagen-Dasz-Eis geteilt (es war ein warmer Tag), und dann ging es weiter zur letzten Station des Tages – der „Appleton Estate Rum Tour“.
Ich glaube zwar nicht, dass sich Lord John während seiner Dienstreise als Gouverneur von Jamaica auf einer Seilrutsche wiederfinden wird, aber ich war erfreut herauszufinden, dass Appleton seit 1749 auf Jamaica Rum herstellt und daher gewiss in der Lage gewesen wäre, Seine Exzellenz mit dem einen oder anderen Fass zu versorgen. (Natürlich war das alles Recherche!)
Die Rum Tour nimmt ihren Anfang (durchaus logisch) in der öffentlichen Bar, wo man einen Becher Rumpunsch spendiert bekommt (der wirklich gut ist. Das Rezept ist Firmengeheimnis, beim Probieren drängt sich allerdings die Vermutung auf, dass es eine Mischung aus Cidre und Orangensaft ist, die mit Rum abgeschmeckt wird), bevor die Führung über das Gelände beginnt.
Auf diesem Gelände findet sich überall antike Destillier-Ausrüstung, die zum Teil noch benutzt wird – wie die Zuckerrohrpresse aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert, die von einem Esel namens Paz („Friede“) angetrieben wird. Wir durften rohen Zuckerrohrsaft probieren und dann den „Muscado“, zu dem er wird, nachdem man ihn in riesigen Eisenfässern gekocht hat: eine Mischung aus dickflüssiger, aromatischer Melasse und grobkörnigem braunem Zucker. Köstlich!
Ab dem Punkt der Fermentierung ähneln schließlich sowohl der Vorgang als auch die Maschinerie der Rumherstellung denen der Whiskyherstellung. Das heißt, man lässt den Brei (ob Muscado oder Maische) eine Zeit lang fermentieren, um ihn dann zu destillieren und so vom Alkohol zu trennen, den man in Fässer abfüllt und reifen lässt.
Nachdem wir die Fermentierungsanlage und die Destille besichtigt hatten (und zugesehen hatten, wie der rohe Rum zum Transport in eine größere Lagerhalle in einen Tankwagen gefüllt wurde), haben wir einen Blick in das älteste Lagerhaus geworfen, das etwa achttausend Fässer beherbergt – und dann hat sich unser Führer strahlend zu uns umgedreht und gesagt: „Und jetzt … betrinken wir uns!“
Die nächste Station war eine kleine private Bar, in der sämtliche Appleton-Rumprodukte aufgereiht waren (etwa ein Dutzend, von zehn Jahre altem Rum bis hin zu CocoMania, einem leckeren Rumlikör mit Kokosgeschmack, Rum-Sahne-Likör und etwas, das sich „hochprozentiger Rum“ nannte, im Prinzip aber Fusel ist, also frischer, roher, ungereifter und sehr alkoholischer Rum). Wir bekamen viele kleine Plastik-Probierbecher und wurden aufgefordert, nach Lust und Laune zu probieren. Das haben wir getan – und sind dann in den Laden gegangen und haben eine Flasche Zehnjährigen gekauft (Recherche) und eine Flasche CocoMania (ein Geschenk für unsere Gastgeber). Dann sind wir zurück in die öffentliche Bar und haben noch einen Rumpunsch getrunken, bevor wir zu Tony zurückgeschwankt sind und uns am späten Nachmittag auf den Heimweg gemacht haben.
Jetzt kamen die Schulkinder in ihren ordentlichen Uniformen zum Vorschein, und die Krabbenweiblein hatten ihre Vorräte verkauft und waren verschwunden, genau wie die Besitzer der Marktstände. Die kleineren Orte wie Maggoty sind zum Großteil Ansammlungen kleiner, mit Gips verputzter Häuser und dazwischen hier und da eines der blechgedeckten Holzhäuser, die man an der Küste sieht. Die meisten sind in Bonbonfarben gestrichen, die jetzt im Licht des Spätnachmittags miteinander verschwammen und vor der Kulisse des Dschungels aussahen wie halbreife Früchte.

Der Dschungel war jedoch mehr als nur Kulisse – still und leise nahm er alles wieder an sich, das für mehr als ein oder zwei Wochen zurückgelassen wurde. Auf dem ganzen Weg konnte man Häuser sehen, Autos – einmal einen Schulbus, dessen Räder schon ganz in der Erde versunken waren –, die schweigend wieder mit dem Dschungel verschmolzen. Für die Kleinbauern ist es ein unablässiger Kampf zu verhindern, dass ihre Felder und Häuser einfach geschluckt werden.
(Nicht, dass ich hier Streit anfangen möchte, aber ich glaube, die Leute, die ständig predigen, dass die Menschen den Planeten zerstören, haben keine besonders gute Vorstellung davon, welche Urgewalt dieser Planet hat. Die Menschen können sich selbst vernichten, ja, und die eine oder andere Spezies gleich noch dazu, aber den Planeten? Ha.)
Eine letzte Anmerkung zum Heimweg: Eine der kleinen Ansiedlungen dort oben in den Bergen heißt Accompong. Dies war der Name des Anführers einer der Sklavenrebellionen auf Jamaica (von denen es im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert fünf Stück gab). Das war für mich von besonderer Bedeutung, da ich besagten Herrn in „Lord John and the Plague of Zombies“ verwendet habe und mich gefreut habe, ihn so verewigt zu sehen. Die Berge habe ich in der Geschichte ebenfalls benutzt, und ich war mehr als beeindruckt davon, wie anstrengend es gewesen sein muss, zu Fuß durch den Dschungel dort hinauf zu kommen.
(Apropos zu Fuß … unsere Gastgeberin im Tensing Pen hat uns erzählt, dass ihre amerikanischen Gäste hin und wieder entlang der Straße joggen gehen – zum Erstaunen der Jamaicaner, die ihnen zurufen: „Hey, wovor rennst du denn weg? Jemand hinter dir her?“ Was eigentlich alles über die kulturellen Unterschiede hier sagt.)
[Nein, das Bild mit dem nackten Mann stelle ich hier nicht hin. Er war tatsächlich im Hintergrund des Bildes, das ich gemacht hatte, und fiel zwar nicht besonders auf, aber er war definitiv nackt. Beim Vergrößern des Bildes konnte ich auch sehen, dass er gesehen hatte, dass ich meine Kamera auf ihn gerichtet hatte; er hatte das Gesicht abgewandt und die Arme von sich gestreckt, und er hatte eindeutig nicht die Absicht, sich für einen Auftritt in der Geo-Sonderausgabe über Jamaica zu bewerben. Und obwohl ich ihn wirklich nicht mit Absicht fotografiert habe, wäre es einfach nicht nett, denn armen Kerl noch weiter zu kompromittieren.]
© 2010 Diana Gabaldon und Barbara Schnell