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Fokus, Perspektive und das innere Ohr

Fokus, Perspektive und das innere Ohr

Hier ist der angekündigte Kommentar zu meinem letzten Post mit den beiden kurzen Szenen. Es geht um Fokus. („Enden“ folgen noch – das ist ein bisschen komplexer, und meine Woche ist gerade ziemlich voll.) Ich habe ihn als separaten Text geschrieben, weil ich ihn so als Material für den Schreibworkshop benutzen kann, den ich im Herbst bei der Surrey International Writers Conference geben werde.

FOKUS: Okay, Fokus ist die Kunst, den Leser dorthin blicken zu lassen, wohin man es möchte, und ihn sehen zu lassen, was man möchte. Klingt einfach, nicht wahr? 🙂

Es ist eigentlich keine komplizierte Methode, und die Werkzeuge, die man zur Verfügung hat (ob als Filmemacher, Drehbuchautor oder Schriftsteller), sind ebenfalls recht simpel.

Das erste dieser Werkzeuge ist die Erzählperspektive. Das bedeutet im Prinzip: „In wessen Kopf stecken wir gerade?“ (bei Texten) oder „Mit wessen Augen sehen wir?“ (bei Filmen oder visuellen Geschichten wie Graphic Novels oder Bilderbüchern).

Vor ein paar Jahren haben mein Mann und ich über ein Stück Text gesprochen, das ich gerade geschrieben hatte. Ich erwähnte die Erzählperspektive einer Figur, und dann musste ich das erklären. Nun ist mein Mann ein sehr belesener Mensch mit einer guten Wahrnehmung, aber nach meiner Erklärung sagte er zu mir, dass er noch nie auf die Idee gekommen war, eine Geschichte könnte aus dem Blickwinkel einer bestimmten Person erzählt sein. Das ist aber die Art von Prinzip, die man auf der Stelle erkennt, wenn man es einmal gesehen hat.

Die Erzählperspektive ist eins der Dinge, die zwar unverhüllt auf der Seite stehen, die man als Leser aber vielleicht nicht sieht, wenn einem die Methode nicht vertraut ist. Genau so kann es beim Schreiben passieren, dass die Perspektive umher wandert, wenn einem die Methode nicht vertraut oder man sich ihrer nicht bewusst ist. Damit läuft man Gefahr, den Leser abzulenken, zu verwirren oder zu langweilen (und wir nehmen einmal an, dass das eigentlich nicht der Sinn der Übung ist …)

Allerdings gibt es eine Form namens „allwissender Erzähler“, bei der man genau das tut – nach Lust und Laune in die Köpfe der Figuren und wieder hinaus wandert – und das ist absolut legitim, man muss nur vorsichtig damit sein, damit der Leser sich jederzeit sicher ist, in wessen Kopf er sich befindet.

Ich lese gerade ein tolles Buch, „Eine ganz dumme Idee“ von Fredrik Backman, einem schwedischen Autoren. Vor ein paar Wochen habe ich auf facebook einen Link zu seiner extrem komischen – und sehr zutreffenden – Rede bei einer Verlegerkonferenz gepostet und bin sofort los, um mir eins seiner Bücher zu kaufen. Ich habe „Eine ganz dumme Idee“ genommen, und es ist wundervoll – sehr komisch und tieftraurig zugleich, was wirklich nicht leicht zu bewerkstelligen ist. Er benutzt im Großteil seines Buchs eine allwissende Erzählperspektive, und sie ist sehr effektiv. Wenn Ihr also ein gutes Beispiel sucht, hier ist eins.

Gehen wir aber für den Moment davon aus, dass wir eine einfachere Perspektive benutzen, in der man es jeweils nur mit dem Kopf einer einzelnen Figur zu tun hat. Das kann die erste Person sein, was bedeutet, was bedeutet, dass die Person, deren Kopf man benutzt, von sich selbst als „ich“ spricht und redet.

BEISPIEL: Ich öffnete die Tür und erschrak zu Tode. Das heißt, ich wäre tot gewesen, wenn ich nicht stehen geblieben wäre, denn einen halben Meter vor mir lag eine große Klapperschlange zusammengerollt auf dem Boden. Sie sah nicht freundlich aus.

(Anmerkung: Als ich „Feuer und Stein“ geschrieben habe, habe ich nur eine Erzählperspektive benutzt – Claires, und wie Ihr wisst, ist das eine Ich-Erzählung – sie denkt und spricht also von ihren Handlungen und Gedanken als „ich“. Der Verleger beschloss – aus purer Verzweiflung über die Frage, wie er ein Buch vermarkten sollte, das problemlos unter fünf oder sechs verschiedene Genres fallen könnte –, es erst einmal als Liebesroman zu veröffentlichen, weil das der größte Markt war, der in Frage kam. In der Folge wurde mir von zahlreichen Autorinnen und Lesern solcher Romane mitgeteilt, dass man NIEMALS in der ersten Person schreiben sollte!

„Die Leser mögen das nicht“, wurde mir gesagt (oft mit strenger Miene). „Sie wollen nicht die Heldin sein, sie wollen die beste Freundin der Heldin sein.“ Zum Glück hatte ich gar keinen Liebesroman geschrieben – wenn also jemand zu mir kam (und das haben überraschend viele Menschen getan) und (im Tonfall unterdrückten Grauens) sagte, „wie konnten Sie es wagen, ein Buch in der ersten Person zu schreiben?“, habe ich erwidert, „ganz einfach, ich habe mich hingesetzt und „ich“ getippt“ …“. Ich meine, nennt mich Ishmael … mindestens die Hälfte der englischen Literaturklassiker sind in der ersten Person geschrieben.

Die Ich-Perspektive ist sehr intim, aber einige Schriftsteller ziehen ein wenig mehr Distanz vor.

Die Alternativen zur ersten Person sind (mehr oder weniger) ein allwissender Erzähler, wie schon erwähnt, oder eine Erzählperspektive in der dritten Person, in der man Dinge schreibt wie: „Jamie hoffte, dass der Stein, den er im Begriff war hochzuheben, keine zusammengerollte Klapperschlange mit schlechter Laune verbarg“. Die erzählende Figur denkt also von sich nicht als „ich“, aber der Leser sieht nur, was die Figur sieht.

Nun denn. Der Textauszug aus dem letzten Blogeintrag ist (erkennbar, hoffe ich) in Jamie Frasers Perspektive geschrieben – in der dritten Person. Alles, was der Leser sieht, wird durch Jamies Augen gesehen, und wir haben Teil an seinen Gedanken über und Reaktionen auf die Dinge, die er sieht und hört.

Es reden zwar auch andere Personen in diesem Szenenpaar – John Quincy Myers und Jenny –, aber ihre Perspektive kommt nicht zu Wort. Sie reden mit Jamie, und wir sehen, was er sieht, ihr Aussehen und die Umgebung, und was er darüber denkt, was sie gesagt haben. Die Erzählperspektive ist seine.

Wenn ich die Szene aus John Quincys Blickwinkel geschrieben hätte, wäre sie anders – obwohl sie dieselbe Information transportieren könnte –, weil JQM andere Dinge sehen und empfinden und diese Dinge durch seine eigene Linse interpretieren würde.

Okay. Wenn man nun entweder eine Ich-Perspektive oder die dritte Person benutzt, zählt die charakteristische Ausdrucksweise der Person zu den Dingen, auf die man achten muss. Das heißt, Jamie ist eine Schotte aus den Highlands und spricht normalerweise entweder Schottisch oder Gälisch (es sei denn, er unterhält sich sehr förmlich mit einer englischen Person). Selbst wenn er denkt, nicht spricht, tut er das in seinem persönlichen Stil. Und gälische oder schottische Ausdrücke, die sich durch seine Dialoge ziehen („Nicht Ihr, a charaidh“, sagte Jamie und streckte die Hand aus, um Myers das Hemd anständig hinunter zu ziehen.), sorgen dafür, dass sich der Leser fest in seinem Kopf weiß.

Eine bestimmte Erzählperspektive zu wählen (und aufrecht zu erhalten), ist also eins der wichtigsten Mittel zur Fokussierung des Lesers. Andere sind:

Die Wahl und Beschreibung des Ortes.

Die Wortwahl.

Ein Ort hat natürlich keine eigene Stimme, aber er hat eine charakteristische Atmosphäre und besondere Merkmale, die dem Leser helfen, sich ein Bild davon zu machen. Zum Beispiel der blühende Hartriegelbusch, unter dem Myers schläft.

BEISPIEL: Nehmen wir den ersten Absatz dieser Szene:

„Jamie bahnte sich zwischen den Überresten der gestrigen – und nächtlichen – Hochzeitsfeierlichkeiten langsam seinen Weg bergauf. Die meisten, die unter Büschen und Bäumen geschlafen hatten, hatten es vermutlich geschafft, bei Tagesanbruch aufzustehen und heimzugehen, um ihre Tiere und Kinder zu füttern, aber er kam an einem großen blühenden Hartriegel vorbei, dessen duftende Blüten auf ein säumiges Paar Füße gefallen waren, ihres Zeichens nackt und haarig, die Sohlen sauber, aber voller Schwielen.“

Wir folgen Jamie; wir sehen, was er sieht, und wir wissen, was er weiß und wo und wann wir uns befinden. Und während wir diesen Absatz lesen, bekommen wir einen schnellen Eindruck davon, wo genau wir sind (in Bezug auf die Zeit und das Ereignis) und was wir vor uns haben. Darüber hinaus wären da die Alliterationen: „unter Büschen und Bäumen“, „säumiges Paar Füße … die Sohlen sauber, aber voller Schwielen“.

Diese Art der Wortwahl erzeugt beim Leser eine mentale Resonanz, so dass er genauer auf die Worte achtet. Die meisten Leser werden so etwas nicht bewusst bemerken, aber ihr inneres Ohr wird auf den Rhythmus reagieren, und das Bild, das man gezeichnet hat, wird sich einprägen.

(Anmerkung: In der zweiten Szene gibt es fast keine Merkmalbeschreibungen, abgesehen von den Mienen und der Körpersprache der Figuren, weil die Szene eine sehr fokussierte Unterhaltung ist – ich brauchte die Umgebung, die Kleider etc. nicht zu beschreiben (und habe es auch nicht getan), weil nur das, was die Figuren sagen, wichtig ist, und da will ich den Fokus haben.)

Fußnote 1: Natürlich gibt es eine unausgesprochene andere Seite solcher Fokus-Techniken: Man kann sie benutzen, um die Menschen daran zu hindern, Dinge zu sehen, von denen man nicht möchte, dass sie sie sehen.

Fußnote 2: Bei visuellen Medien – Graphic Novels, Comics, Fime etc. – ist der Fokus viel direkter: Man hält die Kamera in die Richtung, und die der Zuschauer/Betrachter blicken soll, und das wird er dann sehen.-

Das heißt, dass sich der Autor Gedanken darüber machen muss, was der Zuschauer sehen wird und wie er es sehen soll. Wenn man ein Drehbuch schreibt und die Erzählperspektive vorgegeben ist (was am Ende doch immer der Regisseur entscheidet), schreibt man eine Anweisung wie „AUF Claire, die besorgt aussieht“ oder „Jamie ruft aus dem OFF: (Dialogzeile)“.

Bei einem Zwiegespräch laufen normalerweise zwei Kameras, eine für jede Figur (wobei Entfernung und Schärfe variieren – deshalb dreht man mehrere Einstellungen einer Szene, und Regie und Schnitt entscheiden, wie man sie am wirkungsvollsten mischt.

Viel Glück und viel Spaß beim Lesen!

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