Alles Liebe zum Muttertag …
… oder was würdet Ihr schreiben, wenn Ihr für immer Abschied von Eurer Tochter nehmen müsstet?
MEINE LIEBE BRIANNA …, schrieb ich und hielt inne. Das war doch nicht möglich. Absolut unmöglich, dass ich darüber nachdachte, mein Kind zu verlassen. Der Anblick dieser drei schwarzen, nackten Worte auf dem Blatt verlieh der ganzen irrsinnigen Idee eine kalte Klarheit, die mich ins Mark traf.
Meine Hand zitterte, und die Stiftspitze beschrieb kleine, wabernde Kreise in der Luft über dem Papier. Ich legte den Stift hin, schloss die Augen und schob die Hände zwischen meine Oberschenkel.
„Reiß dich zusammen, Beauchamp“, murmelte ich. „Schreib das verdammte Ding und fertig. Wenn sie den Brief nicht braucht, schadet er nicht, und wenn doch, ist er da.“ Ich griff nach dem Stift und setzte wieder an.
Ich weiß nicht, ob Du das hier jemals lesen wirst, aber vielleicht ist es besser, es zu Papier zu bringen. Das ist alles, was ich über Deine Großeltern weiß (Deine echten), Deine Urgroßeltern und Deine medizinische Vorgeschichte …
Ich schrieb eine ganze Weile weiter, eine Seite nach der anderen. Allmählich wurde ich ruhiger, während ich mich mühsam erinnerte und mich auf die Notwendigkeit der klaren Formulierung konzentrierte, und schließlich hielt ich inne und überlegte.
Was konnte ich ihr sagen, abgesehen von diesen wenigen blutleeren Fakten? Wie ihr die wenigen Weisheiten vermitteln, die ich mir in den achtundvierzig Jahren meines recht ereignisreichen Lebens angeeignet hatte? Mein Mund verzog sich voll Ironie. Gab es eine Tochter, die auf ihre Mutter hörte? Hätte ich es getan, wenn meine Mutter dagewesen wäre, um mir etwas zu sagen?
Doch es spielte keine Rolle; ich würde es einfach niederschreiben müssen, damit es da war, falls sie es brauchte.
Doch was war wahrhaftig, was würde für sich stehen, trotz des Wandels der Zeiten und Sitten, was würde ihr wirklich hilfreich sein? Vor allem jedoch, wie konnte ich ihr sagen, wie sehr ich sie wirklich liebte?
Ich sah das ganze, gähnende Ausmaß meines Vorhabens vor mir, und meine Finger klammerten sich fest um den Stift. Ich konnte nicht nachdenken – nicht, wenn ich diesen Brief schreiben wollte. Ich konnte nur den Stift ansetzen und hoffen.
Baby, schrieb ich und hielt inne. Dann schluckte ich und begann erneut.
Du bist mein Baby, und Du wirst es immer bleiben. Was das bedeutet, wirst Du erst erfahren, wenn Du selbst ein Kind hast, aber ich sage es Dir trotzdem schon – Du wirst immer ein Teil von mir bleiben wie damals, als Du zu meinem Körper gehört hast und ich Deine Bewegungen in mir spüren konnte. Immer.
Ich kann Dich betrachten, wenn Du schläfst, und an all die Nächte denken, in denen ich Dich ins Bett gebracht habe, im Dunklen gekommen bin, um auf Deinen Atem zu lauschen, meine Hand auf Dich zu legen und zu spüren, wie sich Deine Brust hebt und senkt, und dabei zu wissen, dass – was auch immer geschieht – alles richtig steht um die Welt, weil Du am Leben bist.
All die Namen, die ich Dir im Lauf der Jahre gegeben habe – mein Schätzchen, mein Liebes, mein Häschen, mein Kleines, Zwergnase … ich weiß, warum es bei den Juden und den Moslems neunhundert Namen für Gott gibt; ein kleines Wort ist nicht genug für die Liebe.
Ich kniff die Augen fest zusammen, um wieder sehen zu können, und schrieb hastig weiter; ich wagte es nicht, mir Zeit für die Wahl meiner Worte zu nehmen, sonst würde ich sie niemals schreiben.
Ich erinnere mich noch an jede Einzelheit, von der feinen Zickzacklinie aus goldenem Flaum auf Deiner Stirn, als Du wenige Stunden alt warst, bis zu dem zerbeulten Nagel an Deinem großen Zeh, den Du Dir letztes Jahr gebrochen hast, als Du Dich mit Jeremy gestritten und ihm vor die Autotür getreten hast.
Gott, es bricht mir das Herz, wenn ich mir vorstelle, dass es jetzt vorbei ist damit … Dich zu beobachten, all die kleinen Veränderungen zu sehen – ich werde es nie erfahren, wenn Du aufhörst, an Deinen Nägeln zu kauen, falls Du das überhaupt jemals tust. Mit anzusehen, wie Du plötzlich größer wurdest als ich und Dein Gesicht seine jetzige Form annahm. Ich werde mich immer daran erinnern, Brianna, immer und ewig.
Es gibt vermutlich sonst niemanden auf der Erde, Brianna, der weiß, wie Deine Ohren auf der Rückseite ausgesehen haben, als Du drei Jahre alt warst. Ich habe neben Dir gesessen und Dir Dr. Seuss vorgelesen und dann gesehen, wie diese Öhrchen vor Freude rot wurden. Deine Haut war so klar und verletzlich, dass ich das Gefühl hatte, jede Berührung könnte einen Fingerabdruck auf Dir hinterlassen.
Ich habe Dir ja gesagt, dass Du wie Jamie aussiehst. Von mir hast Du aber auch etwas – sieh Dir das Bild meiner Mutter in dem Karton an und das kleine Schwarz-Weiß-Foto mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter. Du hast dieselbe klare breite Stirn wie sie; ich habe sie auch. Außerdem habe ich auch viele Frasers gesehen – ich glaube, dass Du auch im Alter schön bleiben wirst, wenn Du Deine Haut pflegst.
Pass auf alles auf, Brianna — oh, ich wünschte … nun ja, ich wollte immer Dein Leben lang auf Dich aufpassen und Dich beschützen, aber das kann ich nicht, ob ich bleibe oder gehe. Aber pass Du auf Dich auf – für mich.
Jetzt wellten die Tränen das Papier; ich musste innehalten, um sie fort zu tupfen, damit sie die Tinte nicht bis zur Unleserlichkeit verschmierten. Ich wischte mir das Gesicht ab und fuhr fort, langsamer jetzt.
Du solltest wissen, Brianna – es tut mir nicht leid. Trotz allem tut es mir nicht leid. Inzwischen wirst du ja das eine oder andere darüber wissen, wie einsam ich so lange gewesen bin, ohne Jamie. Es spielt keine Rolle. Wenn der Preis für diese Trennung Dein Leben gewesen ist, können weder Jamie noch ich das bedauern. Ich weiß, dass er nichts dagegen hätte, dass ich für ihn spreche.
Brianna … Du bist meine Freude. Du bist perfekt und wundervoll – und ich höre Dich jetzt in diesem enervierten Ton sagen: „Aber natürlich denkst du das – du bist meine Mutter!“ Ja, genau deshalb weiß ich es.
Brianna, Du bist das alles wert – und mehr. Ich habe in meinem Leben schon viele Dinge getan, aber das Wichtigste war es, Deinen Vater und Dich zu lieben.
Ich putzte mir die Nase und griff nach einem frischen Blatt Papier. Das war das Wichtigste; es war unmöglich, alles zu sagen, was ich fühlte, aber das war das Beste, was ich vermochte. Was konnte ich wohl noch hinzufügen, was ihr helfen konnte, gut zu leben, erwachsen zu werden und zu altern? Was hatte ich gelernt, das ich an sie weitergeben konnte?
Wähle einen Mann, der so ist wie Dein Vater, schrieb ich. Egal, welcher. Ich schüttelte den Kopf, nachdem ich das geschrieben hatte – konnte es zwei unterschiedlichere Männer geben? –, ließ es aber stehen und dachte an Roger Wakefield. Wenn Du Dich für einen Mann entschieden hast, versuch nicht, ihn zu ändern, schrieb ich mit mehr Überzeugung. Es geht nicht. Noch wichtiger – lass nicht zu, dass er versucht, Dich zu ändern. Auch ihm wird es nicht gelingen, aber Männer versuchen es trotzdem jedes Mal.
Ich biss auf das Ende des Stiftes und schmeckte bittere Tinte. Und schließlich schrieb ich den letzten und besten Rat, den ich in Bezug auf das Älterwerden kannte.
Halte Dich gerade und versuche, nicht fett zu werden.
Mit all meiner Liebe, für immer,
Mama
(c) Diana Gabaldon & Barbara Schnell. Aus: „Outlander“ – Ferne Ufer, erschienen im Knaur-Verlag. Bitte verlinkt auf diesen Beitrag, aber kopiert ihn nicht.