dianagabaldon.com dianagabaldon.com

Zurück zu 2. Staffel

Frances de la Tour – Mutter Hildegarde

Frances de la Tour – Mutter Hildegarde

Frances de la Tour Mutter Hildegarde

>>

Ich beugte mich über Mutter Hildegardes in Schwarz gekleidete Schulter, sang die ersten drei Zeilen des Stücks und mühte mich mit der Aussprache der deutschen Wörter ab, so gut ich konnte. Dann hörte sie auf zu spielen und verdrehte den Kopf, um zu mir aufzublicken.
„Das ist die Grundmelodie. In der Folge wiederholt sie sich in Variationen – doch was für Variationen! So etwas Ähnliches habe ich schon einmal gesehen, von einem seltsamen kleinen Deutschen namens Bach; er schickt mir hin und wieder etwas …“ Sie wies achtlos mit der Hand auf das Manuskriptregal. „Er nennt sie ‚Inventionen‘, und sie sind wirklich schlau ausgedacht und spielen in zwei oder drei Melodiezeilen gleichzeitig mit den Variationen. Das hier“ – sie spitzte die Lippen und zeigte auf das Lied vor uns – „ist wie eine unbeholfene Kopie eines seiner Stücke. Eigentlich könnte ich sogar schwören, dass …“ Murmelnd schob sie die Nussbaumbank zurück und trat vor das Regal, wo sie rapide mit dem Finger an den aufgereihten Manuskripten entlangfuhr.
Sie fand, was sie suchte, und kehrte mit drei gebundenen Musikstücken zu ihrer Bank zurück.
„Hier sind die Bach-Stücke. Sie sind recht alt; ich habe seit Jahren keinen Blick mehr darauf geworfen. Dennoch, ich bin mir beinahe sicher …“ Sie verstummte und blätterte rasch die Bachnoten auf ihrem Knie durch, während sie hin und wieder den Blick zu dem Lied auf dem Notenpult hob.
„Ha!“, rief sie triumphierend und hielt mir eines der Bach-Stücke hin. „Seht Ihr das?“
Das Papier trug „Goldberg Variationen“ in schräger, verschmierter Handschrift den Titel „Goldberg Variationen“. Ehrfürchtig berührte ich das Papier, schluckte krampfhaft und blickte noch einmal auf das Lied. Es bedurfte nur eines kurzen Vergleichs zu sehen, was sie meinte.
„Ihr habt Recht, es ist das gleiche!“, sagte ich. „Hier und da ist eine Note anders, aber im Prinzip ist es exakt dasselbe wir Bachs ursprüngliches Thema. Wie merkwürdig!“
„Nicht wahr?“, sagte sie im Ton tiefer Genugtuung. „Nun, warum stiehlt dieser anonyme Komponist Melodien und behandelt sie dann so seltsam?“
Dies war eindeutig eine rhetorische Frage, und ich versuchte mich erst gar nicht an einer Antwort, sondern stellte meinerseits eine Frage.
„Ist Bachs Musik heutzutage sehr en vogue, Mutter?“ Bei den musikalischen Salons, die ich besuchte, hatte ich zumindest keine gehört.
„Nein“, sagte sie und schüttelte den Kopf, während sie die Musik betrachtete. „Herr Bach ist in Frankreich kaum bekannt; ich glaube, er hat vor fünfzehn oder zwanzig Jahren in Deutschland und Österreich eine gewisse Popularität genossen, doch selbst dort wird seine Musik kaum öffentlich aufgeführt. Ich fürchte, seine Musik wird die Zeiten nicht überdauern; sie ist zwar ausgeklügelt, doch sie hat kein Herz. Hmpf. Also, seht Ihr das hier?“ Ihr stumpfer Zeigefinger zeigte hierhin und hier und hier und blätterte rasch weiter.

>>