Erzähltes und Erzählperspektive
Dies ist nur ein Teil einer längeren Online-Diskussion, in der es darum ging, ob Schriftsteller „Lieblingsfiguren“ haben und wenn ja, ob das Einfluss darauf hat, welche Figur die Geschichte erzählt (welche Perspektive der Schriftsteller also benutzt). Welche dann quasi in eine Sub-Diskussion abzweigte, ob OUTLANDER „Claires Geschichte“ ist (nein), oder ob Claire oder Jamie (oder eine Vielzahl anderer Figuren) meine „Lieblingsfiguren“ sind (ich hänge an vielen Figuren sehr – Lord John, Mr. Willoughby, Hal, William etc. –, aber das hat nichts mit meiner Wahl der Erzählperspektive zu tun).
Jedenfalls … da ich immer wieder Diskussionen sehe, „wessen“ Geschichte OUTLANDER ist, dachte ich, Sie interessieren sich vielleicht für diesen Teil der größeren Diskussion.
[Bedenken Sie bitte, dass das Folgende an eine andere Schriftstellerin gerichtet war, die wissen wollte, wie ich eine Geschichte konstruiere, wie ich Charaktere „baue“ (falls so etwas überhaupt möglich ist…) und wie ich z.B. entscheide, welche Perspektive ich benutze etc.]
„Liebe X –
es ist natürlich möglich, dass sich andere Schriftsteller viel mehr Gedanken machen als ich, ehe sie sich ans Werk begeben. Alles, was ich hatte, als ich den Entschluss gefasst habe, einen Roman zum Üben zu schreiben (den niemand JEMALS zu sehen bekommen würde, so dass ich jede Freiheit haben würde zu tun, wonach mir auch immer zumute war, und herum zu experimentieren, wie auch immer ich wollte – um mehr Erfahrung und Können zu sammeln – etc.) … war ein Mann im Kilt. Punkt. Das ist alles. Mann im Kilt.
Wenn man also sagen möchte, dass OUTLANDER „von einer Figur handelt“ (und das ist nicht der Fall, aber lassen wir das hier …), wäre es der Mann im Kilt. Als ich aber ungefähr drei Tage geschrieben hatte – und ich habe nicht darüber nachgedacht, was ich schreiben würde, ich habe einfach nur aufgeschrieben, was mir vage durch den Kopf ging, nur um fiktionale Worte zu Papier zu bringen (daher ging es an den ersten beiden Tagen ausschließlich um den – damals noch namenlosen – Mann im Kilt) …
Nun, ich war sofort in der Uni-Bibliothek gewesen (ich war Forschungsassistentin, so dass ich freien Zugang und Ausleih-Privilegien genoss), nachdem ich entschieden hatte, meinen Übungsroman im Schottland des achtzehnten Jahrhunderts anzusiedeln, und am dritten Tag wusste ich ein paar Dinge – vor allem, dass der große Konflikt im katholischen Schottland des achtzehnten Jahrhunderts der Jakobitenaufstand von 1745 war. Welcher – sehr oberflächlich betrachtet (und mehr als oberflächlich bekommt man mit zwei Tagen Recherche nicht hin – ein Krieg zwischen England und Schottland zu sein schien. (Das war er natürlich auch, aber es war viel komplexer … schließlich ist jeder Krieg komplexer als es an der Oberfläche erscheint.)
Mit dieser Tatsache im Gepäck dachte ich dann, nun, ich brauche hier offensichtlich eine Menge Schotten, wegen des Kilt-Faktors, und wenn Krieg ist, kann ich die haben – aber vielleicht wäre es ja eine gute Idee, eine weibliche Gegenspielerin zu haben; dann hätten wir sexuelle Spannung – also einen Konflikt, das ist gut … und wenn ich sie Engländerin sein lasse, haben wir Konflikt en masse. Also …
Auftritt einer Engländerin. Keine Ahnung, wer sie war, war sie tun würde etc. – sie war einfach nur eine Engländerin, deren einziger Zweck es war, auf nicht näher bestimmte Weise mit dem Mann im Kilt zu interagieren, um den Konflikt und die Spannung zu vergrößern.
Das waren also Jamies und Claires Anfänge .
Nun, es war mein Mann, der irgendwann letztes Jahr (als einige Leute damit anfingen, OUTLANDER wäre „Claires Geschichte“ – und andere dagegen hielten, so wäre es nicht) zu mir meinte, dass es eigentlich Jamies Geschichte ist, erzählt durch Claire (die natürlich ein wichtiger Teil besagter Geschichte sei).
Ich habe jemandem von dieser Anmerkung erzählt und hinzugefügt, dass ich fand, dass er recht hatte (nicht, dass ich in den letzten 30 Jahren auch nur einen Gedanken daran verschwendet habe …) – und plötzlich haben wir die große Online-Diskussion. (Nicht, dass ich jemandem deswegen Vorwürfe mache … es ist absolut in Ordnung, dass die Leute so über die Bücher oder die TV-Serie reden, wie sie lustig sind. Aber da sie irgendwann unweigerlich MICH fragen, was ich davon halte … finde ich, dass ich dann auch sagen darf, was meine Meinung ist.)
Was ICH denke, ist, dass es a) NATÜRLICH Jamies und Claires Geschichte ist. Was sollte es sonst sein? Würde einer von ihnen fehlen, wäre es nicht dieselbe Geschichte – was ja deutlich wird, wenn wir im ersten Teil von FERNE UFER ihre getrennten Lebenswege sehen. Und b) stimmt das, was hinter der Bemerkung meines Mannes steckt, aber es hat nichts mit der Signifikanz der beiden Figuren zu tun.
Es hat etwas damit zu tun, dass Jamie in viel interessanteren (lies: gefährlicheren, weniger vorhersagbaren und uns weitgehend unvertrauten) Zeiten lebt. Claires Leben ohne Jamie in der Nachkriegszeit des 20sten Jahrhunderts ist an der Oberfläche eigentlich nicht interessant – eine neue emotionale Verbindung zu ihrem Mann zu finden (aber in einem Kontext der Sicherheit und des beidseitigen Wunsches, diese Verbindung herzustellen) oder später die Herausforderung der Berufstätigkeit mit der Verantwortung und der Gefühlswelt der Mutterschaft in Einklang zu bringen.
Klar kann man aus solchem Material einen guten Roman machen – wie es hunderte von Frauenromanen ja auch tun. Aber das Rohmaterial ist an und für sich nicht interessant. Was es interessant macht, ist entweder die fesselnde, einzigartige Persönlichkeit der Hauptfigur oder/und das kulturelle Interesse oder die Empörung, mit der die Leser auf die geschilderten Situationen reagieren. Frauen fühlen sich von solchen Geschichten angesprochen, weil sie mit diesen Herausforderungen konfrontiert sind und sehen möchten, wie andere Frauen sie bewältigen. Es überrascht nicht, dass Männer das nicht wollen; deshalb sind es „Frauenbücher“.
Nun also Jamies Geschichte. Er ist ein gesuchter Gesetzloser, ständig im Clinch mit mehr oder weniger allen, von der britischen Regierung bis hin zu einem großen Teil seiner eigenen Familie. Er (und seine ganze Kultur) lebt inmitten drohender gesellschaftlicher Unruhen, es ist jederzeit möglich, dass er sich Gewalt, Hinterlist, Misstrauen oder der Gefahr einer Hinrichtung ausgesetzt sieht. Mit anderen Worten, für ihn steht ständig alles auf dem Spiel; Claire lebt in einer sehr persönlichen (aber eigentlich risikolosen) Welt. Abenteuer (und die damit verbundenen charakterlichen Herausforderungen, zum Guten oder zum Schlechten) versus „mein Mann WEIß doch, dass ich mich den ganzen Tag um ein schreiendes Baby kümmere; wie zum Henker kann er Leute zum ABENDESSEN einladen, ohne mich zu fragen?“.
Man verpflanzt Claire also in Jamies Zeit (und sein Leben), und sie findet sich unvermittelt in diesem viel abenteuerlicheren, extremeren Kontext wieder. Vieles, was ihr in OUTLANDER (und den späteren Büchern) zustößt, hat etwas damit zu tun, wer Jamie ist und wozu er sich entscheidet oder gezwungen wird. Das bedeutet nicht, dass sie nur daneben steht, zuschaut oder irgendwie passiv ist; die Tatsache, dass sie DA ist, ist sowohl für Jamie als auch für die gesamte Handlung von absoluter Wichtigkeit, und sie trifft nicht nur persönliche Entscheidungen, die ihr (und Jamies) Leben formen, sondern sie bewältigt auch die Situationen, mit denen sie konfrontiert wird. Aber es ist Jamies Kontext, in dem sie beide gemeinsam leben. Sie erzählt die Geschichte, weil sie die Außenseiterin ist, die Fremde – wir identifizieren uns mit ihr, weil das in ähnlichen Umständen auch unsere Rolle wäre, und es ist viel leichter, eine historische Geschichte zu erzählen, wenn man mit moderner Sprechweise und Wahrnehmung arbeiten kann (und es gibt einem die Möglichkeit zu subtilen gesellschaftlichen Kommentaren – zumindest hoffe ich, dass sie subtil sind …). Das bedeutet nicht, dass es hauptsächlich ihre Geschichte ist oder dass ihr Anteil daran größer oder kleiner ist als Jamies – wie bereits angemerkt, gibt es diese Geschichte nur mit diesen beiden, und zwar mit ihnen beiden ZUSAMMEN.
Aber wenn Sie die Struktur der Geschichte betrachten, dann ja, es ist Jamies Geschichte, erzählt (und erlebt) von Claire.
– Diana
P.S. Ja, ich weiß, dass einige Menschen, die mit der TV-Serie zu tun haben, sagen, dass es „Claires Geschichte“. Sie haben ihre eigenen, guten Gründe dazu, und auch sie haben ein Anrecht auf ihre Meinung. Ich sage Ihnen nur, was ICH weiß. Die Bücher sind die Bücher, und die Serie ist die Serie – und ich schreibe die Bücher.