Einen schönen Ersten Advent Euch allen!
Heute ist der erste Sonntag im Advent. Die heutige Kerze wird meistens “Hoffnung” genannt, obwohl sie in manchen Kreisen auch “die Kerze der Weissagung” heißt. Ganz gleich, welchen Namen wir ihr geben, wir haben die Absicht, uns von der Dunkelheit abzuwenden – Zwietracht, Furcht, Gewalt und Traurigkeit in der Flamme unserer Herzen verschwinden zu lassen wie trockenes Laub, auf dass sich Hoffnung mit dem stillen Licht erhebe.
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Auszug aus OUTLANDER Buch 10, (c) Diana Gabaldon & Barbara Schnell
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Minnie hatte die Ungewissheit immer gemocht. Nicht zu wissen, ob die Bücher, die sie auf einem Dachboden in Paris hervorgekramt hatte, wertloser Kram waren oder ein fantastischer Schatz, nicht zu wissen, ob die nächste Person, die zur Tür der Buchhandlung hereinspazierten würde, eine Kunde war oder ein jakobitischer Spion. Nicht zu wissen, wie die Babys, die sie monatelang in sich getragen hatte, in ihren Armen liegen würden, ganz zu schweigen davon, wozu sie heranwachsen würden.
Und nicht zu wissen, was ihr Ehemann als nächstes tun würde. Ein Familienidyll war natürlich idyllisch – aber es gefiel ihr, hin und wieder auf Messers Schneide zu leben. Wobei hin und wieder der wichtige Teil war.
“Niemand möchte auf Messers Schneide festsitzen”, sagte sie. Dass sie es laut gesagt hatte, begriff sie erst, als sie hinter sich ein leises irisches Lachen hörte.
“Weil sie scharf ist, oder weil es langweilig wird?”
“Zumindest kommt man nicht mehr zum Tanzen.” Sie sah sich nach Rafe O’Higgins um, der neben ihr an die Reling getreten war. Er trug einen Mantel mit einem Schultercape aus feiner blauer Wolle und hatte eine Hand an seinem neuen Hut liegen, damit dieser nicht davonflog. Auf den ersten Blick sah er aus wie ein feiner Herr, der er definitiv nicht war. “Könnt Ihr das Land riechen?”
Er atmete tief ein, dann schüttelte er den Kopf.
“Noch nicht, Herzchen. Der Kapitän sagt, es dauert noch drei Tage, vielleicht vier.”
Sie stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf. Nur einmal kurz, aber er lachte sie an, hob das Gesicht und holte tief Luft.
“Fisch”, sagte er. “Ich rieche Fisch. Und einen Wal.”
“Und wie riecht bitteschön ein Wal?”, fragte sie unwillkürlich abgelenkt. “Und sagt jetzt nicht ‘Fisch’.”
“Oh, Wale haben einen sonderbaren Geruch an sich”, sagte er und kniff die Augen zum Schutz vor dem Wind zusammen. “Man kommt natürlich nicht oft so dicht heran, dass man ihn riecht, aber hin und wieder erlebt man es beim Fischen in der irischen See, dass einer neben das Boot kommt und mit einem gewaltigen Stoß ausatmet. Es riecht nach Hitze und Kälte , Fäulnis und Leben, nach Seetang und tausend und Millionen ranziger Tierchen mit dünnen Schalen wie der Nagel eines kleinen Fingers. Sie stecken zwischen den Zähnen der Wale – oder dem, was bei einem Wal als Zähne durchgeht. Dazu”, fügte er sachlich hinzu, “Tonnen von Seetang und der eine oder andere Fisch. Der übliche Wal ist nicht wählerisch.”
“Was Ihr nicht sagt.” Sie hatte die Brüder O’Higgins so sehr um ihrer Konversation willen engagiert wie als Beschützer auf der Reise und weil sie in der Lage waren, Fragen an Orten zu stellen, die eine Frau in den mittleren Jahren nicht aufsuchen konnte, geschweige denn eine Herzogin. “Der übliche Wahl, sagt Ihr. Gibt es denn unübliche Wale?” Sie fragte erst gar nicht, woher er das wissen mochte; die O’Higginses kamen viel herum.
“Oh, nun ja.” Er überlegte. “Da gibt es natürlich den Pottwal. Ein Riesenkerl, und er frisst gewaltige Tintenfische, hat man mir erzählt. Und so wie schon ein kleiner Tintenfisch stinkt, wenn man ihn zu lange liegen lässt, glaube ich, der Atemgeruch eines solchen Riesen muss einen umhauen.”
“Ich hoffe, ich werde diesen Geruch erleben, wenn auch nur, um die Erfahrung zu machen.”
“Euer Leben ist schon immer an Erfahrung reich gewesen, Eure Durchlaucht”, sagte er lachend.
“Das müsst Ihr gerade sagen”, sagte sie, ohne Anstoß zu nehmen. “Erzählt mir doch noch einmal, wie Ihr Euren Finger verloren habt.”
“Welchen?” Er hob beide Hände, als ergäbe er sich, und zeigte den fehlenden kleinen Finger seiner linken Hand und das fehlende obere Glied am Ringfinger der rechten.
“Den da”, sagte sie und zeigte auf seine rechte Hand.
“Ah, den. Ich hatte einen hübschen kleinen Ring, wisst Ihr, Gold mit einem blauen Stein darin, und eine Hure wollte ihn mir vom Finger lutschen, und ich habe sie dabei erwischt. Gerade rechtzeitig.”
“Oh, das glaube ich keine Sekunde lang”, sagte sie ernst. “Dass sie an Eurem Finger gelutscht hat, meine ich.”
“Nun ja, sie hat an diversen Dingen gelutscht”, sagte er und zog eine Schulter hoch. “Ich muss sagen, dass ich den Überblick verloren habe.”
Minnie hatte ihrerseits längst den Überblick darüber verloren, wie viele Geschichten er ihr über den Verlust seiner Finger erzählt hatte, aber ihm fiel immer eine neue ein. Und wie immer war es ihm gelungen, sie abzulenken, wenn auch nur ein paar kostbare Momente lang, von den Gedanken, die sie belasteteten. Doch jetzt glitt ihre Hand verstohlen unter ihren Umhang und in den Schlitz in ihrem Unterrock, wo sie ihre Tasche fand und den Brief darin berührte.
Adam schrieb nur selten einen richtigen Brief. Ihr Zweitgeborener hatte die Angewohnheit seines Vaters geerbt – oder womöglich bewusst nachgeahmt, auch wenn sie ihm das nicht unterstellen wollte –, seine Briefe weder mit einer Anrede noch einer Signatur zu versehen und nur das Minimum an Worten zu verwenden, die nötig waren zu vermitteln, was er auf dem Herzen hatte.
Aber diesen Brief hatte er mit einer Anrede begonnen – “Liebe Mutter” – und ihn auch signiert und “Dein gehorsamster, ergebener, Dich liebender Sohn” hinzugefügt, was ihr Angst machte, genau wie der Text des Briefes selbst, sowohl wegen der Dinge, die er ausließ, als auch wegen der Dinge, die er sagte. Sie wusste schon, dass Dottys kleine Tochter gestorben war – Minerva Joy hatten sie sie nach ihr genannt, und zum tausendsten Mal schluckte sie den Kloß in ihrem Hals hinunter.
Hal hatte ihr die traurige Nachricht vor Monaten übersandt, und sie wäre gern sofort zu ihrer Tochter gereist, aber bis der Brief sie ereichte, war es November, und bis März würden keine Schiffe fahren. Adams Brief war im Februar gekommen; vermutlich war er unterwegs liegen geblieben – er war zerknittert und voller Regenflecken, und er hatte kein Datum darauf gesetzt, verdammt … und er hatte die zusätzliche Neuigkeit enthalten, die Minnie bewogen hatte, auf der Stelle nach Rafe und Mick O’Higgins rufen zu lassen.
“Da ist er”, sagte Rafe plötzlich und riss sie aus ihren Gedanken.
“Wer?”
“Der Riesenkerl”, sagte er mit Respekt in der Stimme.
Minnie hatte hin und wieder im Kanal einen Wal gesehen, aber selten mehr als einen und immer aus solcher Entfernung, dass er nur wie eine graue Masse erschien, die auf- und wieder abtauchte und vor dem Verschwinden Dampf spie wie ein kleiner, beweglicher Vulkan.
Der Riesenkerl stieg langsam aus den Tiefen neben dem Schiff, ein enormer – wirklich enormer – blaugrauer Geist mit Flossen breiter als das Schiff, der sich über die Wellen erhob und versank in den stummen Pausen eines Gesangs, den sie spürte, aber nicht hören konnte. Und langsam – es erschien ihr ewig, konnte aber nicht länger als drei Atemzüge gedauert haben – tauchte er ab, glatt wie das Wasser selbst, und verschwand in der Tiefe.
“Oh”, sagte sie ganz leise, und Rafe nickte.
“Es ist ein großes Glück, so etwas zu sehen, Eure Durchlaucht. Das Schicksal wird uns hold sein, wartet’s nur ab.”
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