„Diversity“ ist keine abstrakte Idee
Eine Freundin in Deutschland hat mich gestern gefragt, ob ich vielleicht etwas habe, was ich zum #DiversityDay posten möchte. Ich war mir nicht ganz sicher, was ich für einen solchen Anlass nehmen könnte — vielleicht die Szene, in der Jamie und sein Neffe Ian die Irokesen besuchen und Jamie beim Aufwachen feststellt, dass die Gastfreundschaft des Häuptlings ihm zwei Bettwärmerinnen im heiratsfähigen Alter an die Seite gelegt hat, aber ich hatte keine Zeit, sie einzutippen. (Morgen vielleicht …)
Andererseits habe ich aber vielleicht einen viel unmittelbareren Bszug zur Bedeutung von Diversity = Vielfalt als andere; sie ist keine abstrakte Idee. Also dachte ich, ich nehme diese kurze, persönliche Geschichte: Meteorologie, Mythen und Geburtstage in den Bergen Mein Geburtstag war immer der kälteste Tag des Jahres. Wenn das auch nicht wissenschaftlich erwiesen sein mag, so ist es doch eine Familienlegende, und jeder weiß, dass Mythen stärker sind als Meteorologie, selbst im Norden, wo tiefer Schnee auf den Gipfeln liegt und man die Häuser so baut, dass sie die Wärme innen halten, nicht außen. Diese spezielle Legende nahm ihren Ursprung – durchaus verständlicherweise – am Tag meiner Geburt, dem 11. Januar 1952. Meine Familie lebte zwar in Flagstaff, doch der dortige Hausarzt hatte sich mit der Krankenhausleitung überworfen und seine Praxis ins Krankenhaus von Williams verlegt.
Als meine Mutter also früh am Morgen Wehen bekam, waren meine einundzwanzig Jahre alten Eltern gezwungen, dreißig Meilen auf vereister Landstraße durch einen tobenden Schneesturm zu fahren, um den Arzt aufzusuchen. Als ich bei Anbruch der Dunkelheit schließlich da war, hatte das Ganze meinen Vater derart aus der Fassung gebracht, dass er das nächstbeste Restaurant betrat und sich zum Abendessen Rührei mit Schinken bestellte – ohne daran zu denken, dass es Freitag war (damals aßen Katholiken Freitags kein Fleisch). Er fuhr die dreißig Meilen durch Schnee und Glatteis zurück, kam zweimal von der Straße ab, blieb in Schneeverwehungen stecken und schaffte es – wie er später erzählte – nur deshalb, sich zu befreien, weil er den Gedanken nicht ertragen konnte, zu erfrieren und meine Mutter mit einem Neugeborenen allein zu lassen.
Im Alter von zwei Tagen unternahm auch ich die gefährliche Fahrt durch die dunklen Kiefernwälder der frostigen Landschaft und nahm meinen Platz in der dritten Generation der Einwohner Flagstaffs ein. Es gibt nicht viele von uns, Flagstaff ist nun einmal noch nicht sehr alt. Zu den Gründern des Ortes gehörten auch meine Urgroßeltern. Stanley Sykes stammte aus Yorkshire in England, doch im Alter von fünfzehn Jahren stellte man Schwindsucht bei ihm fest. Seine einzige Chance, sagte ihm sein Arzt, sei es, England zu verlassen; nach Arizona zu gehen, wo die warme, trockene Luft seinen Lungen guttun würde (na ja, es war 1868; die Leute aus dem mittleren Westen mit ihren verdammten Maulbeeren und ihrem Bermudagras waren noch nicht hier). Stanley hörte auf diesen Rat und nahm mit seinem Bruder Godfrey Kurs auf die Neue Welt und den heilenden Balsam der Wüstenluft. Wie viele andere Zugereiste – mein Mann zum Beispiel –, die Arizona für eine Wüste hielten, war Stanley verblüfft, als er feststellte, dass sich das nördliche Drittel des Staates auf dem Colorado Plateau befindet und der San-Francisco-Gebirgszug mit dem größten Gelbkiefernwald der Welt bedeckt ist.
Weil er die Wüste suchte, zog Godfrey nach Süden … doch Stanley blieb, verführt vom Rauschen des Windes in den Kiefern und dem klaren dunklen Himmel der Nächte in den Bergen, an dem die Sterne leuchteten. Meine Urgroßmutter Beatrice Belle Switzer kam mit ihren sieben Brüdern und Schwestern aus Kentucky, wo die Familie Opfer einer Flut geworden war. Es muss eine Flut von biblischen Ausmaßen gewesen sein, denn als die Switzers sich erst einmal in Bewegung gesetzt hatten, haben sie erst in Flagstaff wieder Halt gemacht. 2300 Meter über dem Meeresspiegel lag ihnen der Ort offensichtlich hoch genug. Die Luft in Flagstaff mag zwar nicht heiß gewesen sein, aber anscheinend war sie hinreichend trocken, denn Stanley wurde 92, bis er schließlich im Urlaub in San Diego starb (dieser Nebel schafft jeden). Ich war vier, als er starb, und sehe ihn immer noch lebhaft in seinem Sessel vor mir, während der Qualm seiner Pfeife im Lampenschein dahinschwebte und er mir die Kunst des Kartenhausbaus beibrachte – eine Fähigkeit, für die ich heute noch bewundert werde. Sein Sohn Harold – mein Großvater – wurde Bürgermeister von Flaggstaff, und daran entspinnt sich ein weiteres Stück Familiengeschichte.
Es war geradezu ein Skandal – so sagte man –, als sich meine Mutter Jacqueline Sykes, die Tochter des Bürgermeisters, Nachfahrin einer der Gründerfamilien von Flaggstaff, in Antonio Gabaldon verliebte. Tony war klug, sportlich und fleißig; er sah gut aus – und war Amerikaner mexikanischer Abstammung. Er stammte aus Belen in New Mexico. 1949 bedeutete dies in einer Kleinstadt in Arizona so viel wie Rassenschande – so sagte man. Die Freundinnen meiner Mutter sagten es. Mrs. X, ihre Englischlehrerin, sagte es und teilte ihr entschlossen mit, dass sie unmöglich einen Mexikaner heiraten könnte; ihre Kinder würden schwachsinnig zur Welt kommen. Der Pfarrer, der sich weigerte, sie zu trauen, sagte es; eine solche Ehe würde niemals halten. Die „Nahestehenden“, die mit einer öffentliche Unterschriftenliste gegen die Heirat protestierten, sagten es; was für ein Skandal. Ihe Eltern sagten es – und schließlich ließ sie sich überreden und löste die Verlobung. Ihre Eltern schickten meine Mutter nach Süden, zur University of Arizona in Tuscon, um den Skandal hinter sich zu lassen, um zu vergessen. Doch sie vergaß nicht, und sechs Monate später rief sie Tony an einem dunklen Dezemberabend an und sagte: „Ich will dich nach wie vor. Wenn du mich auch noch willst – komm mich holen.“
Er fuhr von dem verschneiten Berg in die Wüste hinunter und holte sie noch in derselben Nacht heim – und um halb sieben am nächsten Morgen hat ein Priester aus der Nachbarpfarre sie getraut. Es war eine lange, glückliche Ehe, die erst durch den Tod getrennt wurde, und dreizehn Monate nach der Hochzeit wurde ich geboren, die dritte Generation, die auf dem Berg zur Welt kam. Wir (und die vierte Generation) leben in Scottsdale, doch das Haus meiner Familie in Flaggstaff habe ich noch, und ich flüchte mich regelmäßig zum Schreiben dort hin; das ideale Schreibwetter beinhaltet für mich ein glänzendes Schutzgitter aus Eiszapfen, das die Eindringlinge fernhält, weiße Watte auf den Kiefern und den Bürgersteigen und das gedämpfte Knirschen der Autos, deren Reifen die Schlacke in den rutschigen Schnee pressen, während sie sich bergauf kämpfen.
Hier streut niemand Salz; eigentlich ist der San-Francisco-Gebirgszug nur ein einziger Berg, der Überrest eines erloschenen Vulkans – zumindest hoffen wir, dass er erloschen ist; der geologische Dienst ist sich da nicht so sicher. Es ist Weihnachten und 22 Grad, und die Hunde schwimmen im Pool. Doch mein Mann schenkt mir warme Pantoffeln, weil er weiß, dass ich sie bald brauchen werde. Mein Geburtstag ist schließlich immer der kälteste Tag des Jahres. (Oh … Mrs. X? Sie hatten Unrecht.) © 2010 Diana Gabaldon und Barbara Schnell. Bitte achtet das Urheberrecht und verlinkt auf diesen Beitrag, aber kopiert ihn nicht.