Das Meer der Lügen
Leser von Diana Gabaldons Highland-Saga kennen Lord John Grey als treuen Freund und geistreichen Briefpartner, der der Hauptfigur Jamie Fraser in unerwiderter Liebe zugetan ist. Doch auch zwischen seinen Auftritten in der Welt von Jamie und Claire führt der englische Offizier ein interessantes Eigenleben: Wandelte er in der Kurzgeschichte „Die Flammen der Hölle“ erstmals auf den literarischen Spuren von Dorothy Sayers‘ adeligem Hobbydetektiv Lord Peter Wimsey, so besteht er nun in „Das Meer der Lügen“ sein erstes Krimiabenteuer im Romanformat.
Es beginnt auch diesmal im Herrenclub „Die Gesellschaft zur Wertschätzung des englischen Beefsteaks“. Man schreibt das Jahr 1757, als Grey beim Entleeren seiner Blase einen verstohlenen Blick auf seinen Nebenmann wirft — und feststellt, dass dieser Symptome der Syphilis zeigt. Unglücklicherweise ist dieser Nebenmann der Ehrenwerte Joseph Trevelyan, ein prominentes Mitglied der Londoner Society und noch dazu der Verlobte von Greys junger Cousine. Nur Augenblicke später hört Grey vom gewaltsamen Tod eines Soldaten seines Regiments, und was als harmloses Mittagessen in seinem Lieblingsclub beginnt, endet in einem Netz aus Intrige und verzweifelter Liebe.
Von seinem Regimentskameraden und schrulligen Freund Harry Quarry erfährt Grey, dass Tim O’Connell, der ermordete Soldat, unter Spionageverdacht stand. Als einzigem Offizier, der als Mitverschwörer nicht in Frage kommt, fällt Grey die Aufgabe zu, die nötigen Ermittlungen durchzuführen. Und die Spur Tim O’Connells führt ihn geradewegs … wieder zu Joseph Trevelyan. Neben der vergleichsweise harmlosen Frage, wie er einen Skandal vermeiden kann, der den Ruf seiner Cousine für immer ruinieren würde, sieht sich Grey plötzlich einer Verschwörung gegenüber, die noch weitere Menschenleben zu fordern droht.
Während die Hochzeitsvorbereitungen im Hause Grey auf Hochtouren laufen und Lord John gute Miene zum bösen Spiel macht, wann immer seine Cousine ihn um Rat in einer Stilfrage bittet, befolgt er eines Abends einen Vorschlag Harrys und sucht ein Bordell auf, in dem Trevelyan als Stammgast bekannt ist. Doch anstatt hier auf die Quelle des Übels zu stoßen, an dem Trevelyan leidet, steht er nur vor einem neuen Rätsel. Trevelyan trifft sich in diesem Bordell mit einer Gestalt in einem grünen Samtkleid, mit der er gemeinsam ein anderes Haus aufsucht — dessen bloßer Name Grey erstarren läßt: Das Lavender House ist ein Freudenhaus, in dem nicht nur die Kunden, sondern auch die Huren Männer sind.
Wer ist dieser Joseph Trevelyan, der als erfolgreicher Geschäftsmann in den höchsten politischen Kreisen verkehrt und kurz vor einer respektablen Eheschließung steht — und doch des Nachts eine zweite Existenz zu führen scheint? Wer ist die — oder der? — geheimnisvolle Fremde?
Als Grey schließlich keinen anderen Ausweg mehr sieht als Trevelyan direkt mit seinem Wissen zu konfrontieren und die Verlobung aufzulösen, erbittet sich dieser widerspruchslos drei Tage Zeit, um seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Drei Tage, die er jedoch zur Flucht nutzt — und als Grey ihn das nächste Mal zu Gesicht bekommt, befindet er sich an Deck eines Dreimasters auf dem Weg nach Indien. Hier nun erfährt er, welches dramatische Schicksal nicht nur Trevelyan hat erkranken lassen, sondern auch die Frau, die er wirklich liebt und die er mit Leib und Leben zu schützen versucht.
Auch das Rätsel um Tim O’Connell, den ermordeten Kameraden, findet an Bord des Seglers seine Antwort. Denn der Medicus, der Trevelyan und seine Geliebte mit einer riskanten Methode zu heilen versucht, ist kein anderer als der zwielichtige Apotheker Scanlon. Auch er beschützt eine Frau, der das Leben übel mitgespielt hat: die Witwe des Ermordeten O’Connell. Sein Geheimnis ist das Wissen um die Identität der Mörder — und um den Verbleib der Militärunterlagen, die der Spion O’Connell hat verschwinden lassen.
Als Offizier und Gentleman, der seine sexuellen Vorlieben für das gleiche Geschlecht um jeden Preis geheim halten muss, weiß Lord John um die persönliche Not, die einen Mann in eine Doppelexistenz treiben kann. Als Freund des schottischen Strafgefangenen Jamie Fraser, dessen einziges Verbrechen es gewesen ist, im letzten Jakobitenaufstand auf der Verliererseite zu stehen, weiß er auch, dass Recht und Ordnung nicht immer mit Gerechtigkeit identisch sein müssen. Und so führt ihn das Abenteuer seiner Spurensuche ihn am Ende nicht nur weit auf die hohe See hinaus, sondern lässt ihn auch sein eigenes Verständnis von Moral und Loyalität zutiefst hinterfragen.
Wie jeder gute Krimiautor erzählt Diana Gabaldon nicht nur eine spannende Story, sondern lässt auch die Handelnden ihre eigene Antwort auf die Frage finden, wann — und zu welchem Preis — der Zweck die Mittel heiligt. Eine Frage, die heute noch genau so aktuell ist wie in jenem Sommer 1757.