dianagabaldon.com dianagabaldon.com

Sehet, die zweite Kerze brennt

Sehet, die zweite Kerze brennt

Dies ist der zweite Sonntag im Advent. Dies ist die Zeit, in der sich die Welt wie im Mutterleib verdunkelt. Wir warten in stiller Nachdenklichkeit und lauschen dem fernen Lied der Sterne und dem leisen Herzschlag der Ewigkeit.

 

RACHEL HATTE SICH bewegt gefühlt, bei der Zusammenkuft darüber zu sprechen – über den Krieg. Jamie kam fast immer, doch er selbst sprach nur selten. Er kam leise herein und setzte sich auf eine hintere Bank, lauschte mit gesenktem Kopf. Lauschte, wie es auch ein Quäker tun würde, der Stille und seinem inneren Licht. Wenn sich hin und wieder jemand durch den Geist bewegt fühlte, etwas zu sagen, hörte er auch dann höflich zu, doch wenn sie bei diesen Gelegenheiten die Ferne in seinem Gesicht beobachtete, dachte sie, dass er in Gedanken noch bei sich war, ruhig und beständig auf der Suche.

“Ich nehme nicht an, dass dir Ian viel über Katholiken erzählt hat”, hatte er einmal zu ihr gesagt, als er nach der Zusammenmkunft bei ihr stehengeblieben war, um ihr ein Vlies zu geben, das er aus Salem mitgebracht hatte.

“Nur, wenn ich ihn frage”, sagte sie mit einem Lächeln. “Und wie du weißt, ist er kein Theologe. Roger Mac weiß, glaube ich, mehr über den katholischen Glauben und seine Ausübung. Möchtest du mir etwas über Katholiken erzählen? Ich weiß, dass du dich an jedem Ersten Tag ernstlich in der Unterzahl fühlen musst.”

Bei diesen Worten hatte er gelächelt, und es hatte ihr Herz erfreut, das zu sehen. Er war in diesen Tagen so oft voller Sorge, kein Wunder.

“Nein, Kleine, Gott und ich sind auch allein recht zufrieden. Es ist nur, dass deine Zusammenkünfte mich manchmal an etwas erinnern, was die Katholiken hin und wieder tun. Es ist absolut nichts Formelles – aber man geht hin und sitzt eine Stunde vor dem Sakrament. Ich habe das gelegentlich als junger Mann, getan, in Paris. Wir nennen es Anbetung.”

“Und was tut man während dieser Stunde?”, hatte sie neugierig gefragt.

“Nichts Bestimmtes. Vor allen beten. Oder meditieren. Lesen vielleicht, die Bibel oder die Schriften eines Heiligen. Ich habe auch schon Menschen singen gesehen. Ich erinnere mich, wie ich einmal in die Kapelle des Heiligen Sebastian gegangen bin, in den sehr frühen Morgenstunden, lange vor dem Morgengrauen – die Kerzen waren fast alle erloschen – und jemanden Gitarre spielen und singen gehört habe. Ganz leise, nicht, um gehört zu werden, sondern einfach … ein Lied vor Gott.”

Etwas Seltsames hatte sich bei dieser Erinnerung in seinen Augen gerührt, doch dann lächelte er sie erneut an, ein reumütiges Lächeln.

“Das ist möglicherweise die letzte Musik, an die ich mich erinnern kann … die ich tatsächlich gehört habe.”

“Was?”

Er fasste sich flüchtig an den Hinterkopf.

“Ich wurde vor vielen Jahren von einem Axthieb am Hinterkopf getroffen. Ich habe zwar überlebt, aber ich habe nie wieder Musik gehört. Flöten, Geigen, Gesang … ich weiß, dass es Musik ist, aber für mich sind es nicht mehr als Geräusche. Aber dieses Lied … an das Lied selbst erinnere ich mich nicht, aber ich weiß noch, was ich empfunden habe, als ich es gehört habe.”

Sie hatte sein Gesicht noch nie so gesehen wie in diesem Moment, als er sich für sie an dieses Lied erinnerte, doch sie fühlte ganz plötzlich, was er gefühlt hatte in der Tiefe dieser fernen Nacht, und sie verstand, warum er in der Stille Frieden fand.

 

(Aus „Outlander Buch neun“. Copyright Diana Gabaldon & Barbara Schnell. Bitte achtet das Urheberrecht und verlinkt auf diesen Beitrag, aber kopiert ihn nicht.)