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Noch 5 Tage: Leseprobe „Zeit der Stürme“

Noch 5 Tage: Leseprobe „Zeit der Stürme“

Lord John und der Usus der Armee

Grey öffnete die Augen.
„Habt Ihr etwas gesagt, Tom?“
Tom Byrd, sein Kammerdiener, hatte einen Huster ausgestoßen wie ein Schornsteinfeger, und zwar vielleicht dreißig Zentimeter neben Grey Ohr. Als er sah, dass er sich die Aufmerksamkeit seines Brotherrn gesichert hatte, hielt er ihm mit beiden Händen die Nachtschüssel hin.
„Seine Durchlaucht ist unten, Mylord. Mit ihrer Durchlaucht.“
Grey blinzelte das Fenster in Toms Rücken an, dessen geöffnete Vorhänge ein trübes Quadrat verregneten Lichtes freigaben.
„Ihre Durchlaucht? Was, die Herzogin?“ Was konnte nur geschehen sein? Es konnte kaum später als neun Uhr sein. Seine Schwägerin unternahm niemals Besuche am Vormittag, und er hatte auch noch nie erlebt, dass sie seinen Bruder tagsüber begleitete.
„Nein, Mylord. Die Kleine.“
„Die Kleine – oh. Meine Patentochter?“ Er setzte sich hin. Er fühlte sich gut, wenn auch merkwürdig, und er nahm Tom die Schüssel ab.
„Ja, Mylord. Seine Durchlaucht sagt, er möchte mit Euch über ‚die Ereignisse des gestrigen Abends‘ sprechen.“ Tom hatte das Zimmer durchquert und richtete den Blick strafend auf die Überreste von Greys Hemd und Hose, die mit Gras, Schlamm, Blut und Pulver befleckt waren und die Grey achtlos über die Stuhllehne geworfen hatte. Er wandte sich tadelnd zu Grey um, der die Augen schloss und sich zu erinnern versuchte, was genau die Ereignisse des gestigen Abends gewesen waren.
Er fühlte sich irgendwie seltsam. Nicht betrunken, er war nicht betrunken gewesen; er hatte keine Kopfschmerzen, kein Bauchgrimmen …
„Gestern Abend“, wiederholte er unsicher. Der gestrige Abend war zwar verwirrend gewesen, doch er konnte sich daran erinnern. Die Gesellschaft mit dem Aal, Lucinda Geoffrey, Caroline … warum in aller Welt sollte das Hal interessieren … was, das Duell? Warum sollte sich sein Bruder wegen einer solch albernen Angelegenheit sorgen – und selbst wenn es so war, warum tauchte er dann in aller Herrgottsfrühe mit seiner sechs Monate alten Tochter bei Grey auf?
Es war eher die Tageszeit als die Anwesenheit des Kindes, die ungewöhnlich war; sein Bruder ging oft mit seiner Tochter aus, mit der fadenscheinigen Ausrede, das Kind brauche Luft. Seine Frau beschuldigte ihn, mit dem Baby angeben zu wollen – die Kleine war bildhübsch –, doch Grey vermutete, dass der Grund sehr viel ssimpler war. Sein todesmutiger, autokratischer, diktatorischer Bruder, Oberst eines eigenen Regimentes, der Schrecken seiner eigenen Männer wie auch seiner Feinde – hatte sich in seine Tochter verliebt. Das Regiment würde in einem Monat neu stationiert werden. Hal konnte es schlicht nicht ertragen, sie aus den Augen zu lassen.
So traf er den Herzog von Pardloe auf einem Sessel im Salon an, auf dem Arm Lady Dorothea Jacqueline Benedicta Grey, die an einem Zwieback kaute, den ihr Vater ihr hinhielt. Auf dem Tisch neben dem Herzog lagen ihr feuchtes Seidenhäubchen, ihr winziger Kaninchenfellschlafsack und mehrere Briefe, von denen einige bereits geöffnet waren.
Hal blickte zu ihm auf.
„Ich habe dir Frühstück bestellt. Sag guten Tag zu deinem Onkel John, Dottie.“ Sanft drehte er das Baby um. Sie wandte den Blick zwar nicht von ihrem Zwieback ab, stieß aber ein leises Zwitschern aus.
„Hallo, Schätzchen.“ John beugte sich vor und küsste sie auf den Kopf, der mit weichem blondem Haarflaum bedeckt und etwas feucht war. „Machst du einen schönen Ausflug mit Papa im strömenden Regen?“
„Wir haben dir etwas mitgebracht.“ Hal griff nach dem geöffneten Brief und reichte ihn seinem Bruder mit hochgezogener Augenbraue.
Grey zog seinerseits die Augenbraue hoch und begann zu lesen.
„Was!“ Er blickte mit offenem Mund von dem Blatt auf.
„Ja, das habe ich auch gesagt“, pflichtete ihm Hal gutmütig bei, „als er vor Tagesanbruch bei mir abgegeben wurde.“ Er griff nach dem versiegelten Brief und balancierte dabei vorsichtig das Baby. „Hier, das ist deiner. Er kam kurz nach Tagesanbruch.“
Grey ließ den ersten Brief fallen, als stünde er in Flammen, ergriff den zweiten und riss ihn auf.
„Oh John “, stand dort ohne Umschweife, „verzeiht mir, ich konnte ihn nicht aufhalten, es tut mir so Leid, ich habe ihm gesagt, er soll es nicht tun, aber er hat nicht auf mich gehört. Ich würde ja davonlaufen, aber ich weiß nicht, wohin. Bitte, bitte, tut etwas!“ Er war nicht unterzeichnet, doch das war auch nicht nötig. Er hatte die Schrift der Ehrenwerten Caroline Woodford trotz des hektischen Gekritzels erkannt. Das Papier war fleckig und gewellt – von Tränen?
Er schüttelte heftig den Kopf, wie um ihn frei zu bekommen, dann griff er noch inmal nach dem ersten Brief. Der Inhalt war immer noch derselbe wie beim ersten Lesen – von Lord Alfred Enderby an seine Durchlaucht, forderte den Herzog von Pardloe in aller Form auf, ihm für die Ehrverletzung seiner Schwester, der Ehrenwerten Caroline Woodford, mittels seines Bruders Lord John Grey Genugtuung zu leisten.
Grey blickte mehrfach von einem Dokument zum anderen, dann sah er seinen Bruder an.
„Anscheinend hattest du einen ereignisreichen Abend“, sagte Hal und bückte sich mit einem leisen Grunzen, um den Zwieback aufzuheben, der Dottie auf den Teppich gefallen war. „Nein, Schätzchen, das isst du besser nicht mehr.“
Dottie war sichtlich anderer Meinung und ließ sich erst ablenken, als Onkel John sie in den Arm nahm und ihr ins Ohr pustete.
„Ereignisreich“, wiederholte er. „Ja, das war er. Aber das einzige, was ich mit Caroline Woodford gemacht habe, war ihre Hand zu halten, während ich einen Schlag von einem Zitteraal bekam, das schwöre ich. Gligligli-pppppssscchhhhh“, fügte er an Dottie gewandt hinzu, und sie kreischte und kicherte als Antwort.

(c) Diana Gabaldon & Barbara Schnell