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Noch 14 Tage / Daily Lines

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„Nach allem, was ich gehört habe, hat sie St. Anne gründlich auf den Kopf gestellt. Ist sie zufällig auch bei Euch? In Irland meine ich?“ Jamie konnte an der plötzlichen Miene des Begreifens und des Entsetzens im Gesicht des Abtes erkennen, wie sein eigenes Gesicht aussehen musste. Er spürte die Hand des Abtes auf seinem Unterarm, erstaunlich kräftig für ihre Größe.
„Nein, Vater“, hörte er seine eigene Stimme sagen, ruhig und wie abwesend. „Ich habe sie verloren. Während des Aufstandes.“
Der Abt holte leiderfüllt Luft, schnalzte dreimal mit der Zunge und zog Jamie zu einem Sessel hinüber. „Möge Gott ihrer Seele Frieden schenken. Kommt, Junge, setzt Euch. Ihr trinkt jetzt einen Schluck Whiskey.“
Dies war keine Einladung, und Jamie widersprach nicht, als ihm ein reichlich gefülltes Glas in die Hand gedrückt wurde. Er hob das Glas mechanisch, um dem Abt zu danken, sagte aber nichts; zu sehr war er damit beschäftigt, in seinem Kopf zu wiederholen, Herr, lass sie gerettet sein! Sie und das Kind!, als fürchtete er, der Abt könnte sie mit seinen Worten tatsächlich in den Himmel geschickt haben.
Der Schock ließ jedoch rasch wieder nach, und schon bald begann die Eiskugel in seinem Bauch, im sanften Feuer des Whiskeys zu tauen. Er hatte sich mit Wichtigerem zu befassen und musste seinen Schmerz beiseite legen.
Abt Michael sprach über neutrale Dinge: das Wetter (ungewöhnlich gut und ein Segen für die Lämmer), den Zustand des Kapellendachs (so große Löcher, dass es aussah, als sei ein Schwein über das Dach gelaufen, und zwar ein ausgewachsenes Schwein), den Wochentag (ein Glück, dass es Donnerstag war und nicht Freitag, denn es würde Fleisch zum Abendessen geben, und Jamie würde natürlich mit ihnen speisen; Bruder Bertrams spezielle Sauce würde ihm schmecken; sie hatte keinen besonderen Namen und keine besondere Farbe – der Abt hätte sie lila genannt, aber es war allgemein bekannt, dass der Abt farbenblind war und den Sakristan fragen musste, welches Messgewand er an normalen Tagen anziehen sollte, da er rot und grün nicht unterscheiden konnte und es den anderen nur glauben konnte, dass es diese Farben gab, doch Bruder Daniel – er war Bruder Daniel doch begegnet, dem Sekretär im Vorzimmer? — versicherte ihm, dass es so war, und ein Mann mit einem solchen Gesicht konnte doch gewiss nicht lügen, man brauchte sich doch nur die Größe seiner Nase anzusehen, um das zu wissen), und andere Belanglosigkeiten, auf die Jamie mit einem Kopfnicken, einem Lächeln oder einem Geräusch reagieren konnte. Und während der ganzen Zeit durchforschten die grünen Augen sein Gesicht – gütig, aber durchdringend.
Der Abt erkannte den Moment, in dem Jamie die Fassung wiederfand, und lehnte sich ein wenig zurück, um ihn durch seine Haltung, nicht durch Worte, einzuladen zu sagen, warum er hier war.

(„Die Fackeln der Freiheit“, copyright Diana Gabaldon und Barbara Schnell)