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Jamie oder John?

Jamie oder John?

Ich hatte Ihnen ja versprochen, Ihnen die beiden Anfangskapitel zu zeigen, die ich für das neue Lord-John-Buch habe. Nach dem augenblicklichen Stand der Dinge beginne ich das Buch mit der Szene aus Jamies Blickwinkel – aber ich könnte stattdessen auch mit Lord Johns erstem Kapitel anfangen und Jamies an die zweite Stelle setzen. Ich habe es so gemacht, weil ich möchte, dass die Leser sofort erkennen, dass dies genau so sehr Jamies wie Lord Johns Buch ist – aber es ist ein ziemlich ungewöhnlicher Anfang für ein Buch (hust).

Also – wer von Ihnen keine Vorab-Auszüge liest, sollte exakt hier aufhören.

Wer solche Szenen liest … bitteschön, ich hoffe, sie gefallen Ihnen! Lassen Sie mich (gern im Gästebuch) wissen, was Sie meinen: Erst Jamie oder erst Lord John?

THE SCOTTISH PRISONER
(Copyright 2011 Diana Gabaldon)

Kapitel 1

Helwater, im Lake District
1. April 1760

Draußen war es so kalt, dass er dachte, ihm könnte der Schwanz in der Hand abbrechen. Falls er ihn überhaupt fand. Der Gedanke wehte ihm durch den schlaftrunkenen Kopf wie einer der schwachen, eisigen Luftzüge, die durch den Heuboden huschten, und er öffnete die Augen. Jetzt fand er ihn doch; hatte ihn doch beim Aufwachen in der Faust gehalten, und die Schauder des Verlangens zuckten ihm über die Haut wie ein Mückenschwarm. Der Traum hatte seinen Kopf nicht minder fest im Griff, doch er wusste, dass er in Sekunden dahin sein würde, zerplatzt im Schnarchen und Furzen der anderen Stallknechte. Er brauchte sie, musste sich Erlösung verschaffen, solange er ihre Berührung noch spüren konnte.
Hanks regte sich im Schlaf, gluckste laut, sagte etwas Wirres und sank wieder ins Leere, während er murmelte, „’dammich, ‚dammich, ‚dammich …“
Jamie stieß lautlos etwas Ähnliches auf Gälisch aus und schlug seine Decke zurück. Zum Henker mit der Kälte.
Er stieg die Leiter hinunter in dem halb-warmen Pferdedampf der Scheune, wäre vor Hast fast gefallen, achtete nicht auf den Splitter in seinem nackten Fuß. Hier? Er zögerte in der Dunkelheit, sein Drängen unvermindert. Ausmachen würde es den Pferden nichts, doch wenn sie ihn bemerkten, würden sie vielleicht Geräusche machen und die anderen wecken.
Ein Windstoß traf die Scheune und donnerte über das Dach. Ein kräftiger, kalter Luftzug, der nach Schnee roch, störte die Schlafenden, und ein oder zwei Pferde bewegte sich leise kollernd und wiehernd. Von oben kam ein gemurmeltes „’dammich“, begleitet vom Geräusch eines Mannes, der sich umdrehte und sich die Decke über die Ohren zog, um der Realität zu trotzen.
Claire war noch bei ihm, stand ihm deutlich vor Augen, spürbar in seiner Hand. Er konnte sich einbilden, im Duft des frischen Heus ihr Haar zu riechen. Der Gedanke an ihren Mund, ihre scharfen weißen Zähne … er rieb sich die Brustwarze, die unter seinem Hemd hart geworden war und brannte, und er schluckte.
Seine Augen hatten sich längst an die Dunkelheit gewöhnte; er fand die leere Abfohlbox am Ende der Stallgasse und lehnte sich an die Bretterwand, den Schwanz schon in der Hand, Körper und Seele voll Sehnsucht nach seiner Frau.
Er hätte es hinausgezögert, wenn er gekonnt hätte, doch er hatte Angst, der Traum würde ganz verschwinden, und so überließ er sich stöhnend der Erinnerung. Hinterher versagten ihm die Knie, und er ließ sich langsam an der Bretterwand ins lose Heu sinken, presste sich das Hemd um die Oberschenkel, und sein Herz hämmerte wie eine Kesselpauke.

***
(Natürlich passiert in diesem Kapitel noch mehr.)

Kapitel 2

Vom Schicksal der Zündschnüre

London
Argus House

Lord John betrachtete das mit einem Bändchen verschnürte Paket auf seinem Knie, als ob es eine Bombe wäre. Es hätte tatsächlich kaum explosiver sein können, wenn es mit Schwarzpulver gefüllt und mit einer Zündschnur versehen gewesen wäre. Anscheinend verriet die Haltung, mit der er es seinem Bruder erreichte, dieses Wissen, denn Hal fixierte ihn mit stechendem Blick und zog eine Augenbraue hoch. Er sagte jedoch nichts, sondern löste das Band und die Verpackung mit einer ungeduldigen Geste und beugte augenblicklich den Kopf über das Bündel dicht beschriebener Papiere, das zum Vorschein kam.
Grey konnte es nicht ertragen, ihm zuzusehen, während er Charles Carruthers‘ Denunziationen aus dem Jenseits las, denn er selbst erinnerte sich an jede der vernichtenden Seiten, die Hal jetzt las. Er erhob sich und ging zum Fenster des Studierzimmers, das in den Garten von Argus House blickte, ohne das Rascheln der weggelegten Blätter und die gelegentlichen leisen Flüche in seinem Rücken zu beachten.
Hals drei kleine Söhne spielten im Garten Jäger und Tiger und sprangen mit Gebrüll aus dem Gebüsch aufeinander los, gefolgt von begeistertem Geschrei und Ausrufen wie: „Peng! Nimm das, du gestreifter Hurensohn!“
Das Kindermädchen, das am Rand des Fischteichs saß und das Kleidchen der kleinen Dottie fest im Griff hatte, blickte bei diesen Worten auf, verdrehte aber nur mit Märtyrermiene die Augen. Fleisch und Blut haben ihre Grenzen, sagte ihr Gesicht in aller Deutlichkeit, und sie paddelte von Neuem mit der Hand im Wasser, um einen der großen Goldfische anzulocken, damit Dottie ihm Brotkrumen zuwerfen konnte.
John wäre so gern dort unten bei ihnen gewesen. Es war ein selten schöner Tag für Anfang April, und er spürte ihn in seinen Adern, fühlte, wie es ihn drängte, im Freien zu sein und barfuß durch das frische Gras zu laufen. Nackt in das Wasser zu rennen … Die Sonne stand hoch am Himmel und strömte warm durch die Glastüren, und er schloss die Augen und wandte ihr das Gesicht entgegen.
Siverly. Der Name schwebte in der Dunkelheit hinter seinen Augen, quer über das ausdruckslose Gesicht eines Majors in einer Karikatur gemalt, der in Uniform gezeichnet war, ein übergroßes Schwert in der Hand und den Hosenboden voller Geldbeutel stecken hatte, die ihm obszön die Rockschöße ausbeulten. Ein oder zwei davon waren zu Boden gefallen und aufgeplatzt, so dass man den Inhalt sehen konnte – Münzen in dem einen, der andere voller kleiner Gegenstände, die wie Holzpüppchen aussahen. Jede mit einem winzigen Messer im Herzen.
Hinter ihm fluchte Hal auf Deutsch. Er musste an der Stelle mit den Gewehren angelangt sein; deutsche Flüche blieben extremen Situationen vorbehalten, während Französisch bei geringfügigeren Anlässen wie einem angebrannten Abendessen zum Zuge kam und Latein bei formellen Beleidigungen, die er schriftlich zu Papier brachte. Minnie ließ weder Hal noch John im Haus auf Englisch fluchen, weil sie nicht wollte, dass die Jungen schlechte Angewohnheiten annahmen. John hätte ihr sagen können, dass es für solche Vorsichtsmaßnahmen zu spät war, tat es aber nicht. Er wandte sich um und sah, dass Hal aufgestanden war, kreidebleich vor Wut, ein zerknülltes Blatt Papier in der Hand.
„Wie kann er es wagen? Wie kann er es wagen?“
Ein kleiner Knoten, den er bis jetzt gar nicht wahrgenommen hatte, platzte in Johns Brustkorb.
„Dann glaubst du Carruthers also?“
Hal funkelte ihn an.
„Du etwa nicht? Du hast den Mann doch gekannt.“
Er hatte Charles Carruthers gekannt – in mehr als nur einer Hinsicht.
„Ja, ich habe ihm schon geglaubt, als er mir in Kanada von Siverly erzählt hat, und das da –“ er wies kopfnickend auf die Papiere, die Hal auf seinen Schreibtisch geworfen hatte, „– überzeugt mich noch mehr. Man könnte meinen, er wäre Anwalt gewesen.“ Er konnte Carruthers‘ Gesicht immer noch vor sich sehen, bleich im Zwielicht seines Dachbodenzimmers in [], von der Krankheit gezeichnet und doch voller Entschlossenheit, so lange am Leben zu bleiben, dass er gewiss sein konnte, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde. Ganz so lange hatte Charlie nicht mehr gelebt, jedoch immerhin lang genug, um den Fall Major Siverly bis ins letzte Detail niederzuschreiben und ihm das Ganze anzuvertrauen.
Er war die Zündschnur, die diese Bombe zur Detonation bringen würde. Und er wusste nur zu gut, was mit einer Zündschnur geschah, wenn sie einmal brannte.

***