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Eine Frage der Sichtweise

Eine Frage der Sichtweise

Hier geht es um Leser-Erwartungen und Genre-Konventionen – und darum, wie man zum Beispiel die Erzählperspektive benutzen kann, damit der werte Leser seine eng gefassten Erwartungen schwupps vergisst.
Vorgefasste Erwartungen sind manchmal ein Problem – kein unüberwindbares, aber definitiv ein Problem. Wenn zum Beispiel ein Leser etwas ganz Bestimmtes von einem Buch erwartet – ob von der Geschichte, den Charakteren, der Erzählstruktur oder dem Stil – und das nicht bekommt (oder gar etwas völlig Anderes), wird ihn das stutzig machen. Die Aufgabe des Schriftstellers ist es nun, ihm etwas Interessantes anzubieten, das ihm über dieses erste Stutzen hinweg hilft. Sobald er akzeptiert, dass seine Erwartungen nun einmal nicht hunderprozentig erfüllt werden, wird er der Geschichte folgen.
Anders ausgedrückt: Wenn ich schon ständig die Erzählperspektive wechsele, sollte ich jeden dieser Wechsel mit einem packenden Satz einleiten. Hier zum Beispiel die Einleitungen der ersten paar Szenen eines bestimmten Teils von EIN SCHATTEN …

Aus: EIN SCHATTEN VON VERRAT UND LIEBE
Copyright 2014 Diana Gabaldon

Ian hatte das Land schon tags zuvor kurz ausgekundschaftet. „Zum Glück“, murmelte er vor sich hin. Es war Neumond, und er musste klug vorgehen und der Straße folgen. Er würde die Beine seines Pferdes nicht auf unebenem Terrain gefährden, solange er es nicht musste, und mochte ihm Bride gewähren, dass es bis dahin vollständig hell war.

Auf Sir Henrys Befehl hatten die Männer in dieser Nacht bewaffnet geschlafen. Mit einem Gewehr am Körper zu schlafen hatte etwas an sich, das einen Mann in Alarmbereitschaft hielt, bereit, jederzeit aus dem Schlaf zu fahren.

Es war vielleicht vier Uhr Ante-Emm, wie es die britischen Soldaten meiner eigenen Zeit auszudrücken pflegten. Da war sie wieder, diese zeitliche Orientierungslosigkeit, in der sich die Erinnerungen an einen anderen kommenden Krieg wie Nebel plötzlich zwischen mich und meine Arbeit schoben, um dann blitzschnell wieder zu verschwinden und mich die Gegenwart scharf und Kodachrome-bunt sehen zu lassen.

Jamie schritt auf seine wartenden Kompanien zu, die sich lose am Fluss gesammelt hatten. Der Atem des Wassers und der Nebel, der von der Oberfläche aufstieg, trösteten ihn, hielten ihn ein wenig länger in den Frieden der Nacht gehüllt und in das Gefühl der Nähe seiner Verwandten. Er hatte Ian Mòr aufgetragen, bei Ian Òg zu bleiben, wie es sich ziemte, doch er hatte immer noch das seltsame Gefühl, dass drei Männer bei ihm waren.

Ich band Clarence an einen Pfosten und kehrte in das Zelt zurück, jetzt weniger besorgt, wenn auch immer noch angespannt. Was auch immer geschehen würde, würde schnell geschehen, und wahrscheinlich würde es keine große Vorwarnung geben. Fergus und Germain hatten sich auf die Suche nach Frühstück begeben; ich hoffte, dass sie wieder auftauchen würden, bevor ich gehen musste – denn wenn der Zeitpunkt kam, würde ich gehen müssen, ganz gleich, welche Bedenken es mir verursachte, einen Patienten allein zu lassen. Ganz gleich, welchen Patienten.

Es war eine knappe Stunde nach Tagesanbruch, und es würde zweifellos ein weiterer grauenhaft heißer Tag werden, doch noch war die Luft frisch, und William und Goth waren zufrieden. Er bahnte sich seinen Weg durch die brodelnde Masse aus Männern, Pferden, Munitionswagen und anderem Kriegsgerät und pfiff dabei leise „The King Enjoys His Own Again“.

Fergus hatte mir ein Wurstbrötchen und einen Becher Kaffee mitgebracht – erstaunlicherweise richtigen Kaffee.
„Milord wird Euch bald holen lassen“, sagte er und reichte mir beides.

Ich eilte Germain nach, meinen Medizinrucksack voll gluckernder Flaschen über die Schulter geschlungen, eine kleine Kiste mit zusätzlichen Instrumenten und Nähausrüstung unter dem Arm, Clarence am Zügel in der Hand. Mein Kopf war so aufgeregt, dass ich kaum sehen konnte, wohin ich ging.

Der Marquis de la Fayette erwartete sie am vereinbarten Treffpunkt, mit errötetem Gesicht und erwartungsvoll leuchtendem Blick. Jamie musste einfach lächeln beim Anblick des jungen Franzosen, der sich unbekümmert mit einer prachtvollen Uniform mit roten Seidenaufschlägen herausgeputzt hatte. Doch er war nicht unerfahren, trotz seiner Jugend und der unübersehbaren Tatsache, dass er Franzose war. Er hatte Jamie von der Schlacht von [] vor einem Jahr erzählt, wo er am Bein verletzt worden war und Washington darauf bestanden hatte, dass er an seiner Seite schlief, und ihn in seinen eigenen Umhang gewickelt hatte. Gilbert vergötterte Washington, der selbst keine Söhne hatte und eindeutig tiefe Zuneigung zu dem kleinen Grafen empfand.

Die Landschaft wurde hier von drei Flüssen zerschnitten. Dort, wo der Boden weich war, hatte sich das Wasser tief hinein gefressen, und der Fluss verlief am Grund einer kleinen Schlucht, deren steile Ufer dicht mit Baumschösslingen und Gebüsch bewachsen waren. Ein Farmer, mit dem er tags zuvor gesprochen hatte, als er die Gegend auskundschaftete, hatte ihm die Namen gesagt – Dividing Brook, Spotswood Middle Brook und Spotswood North Brook –, doch Ian hätte nicht mit Sicherheit sagen können, welchen er vor sich hatte.

Jeder dieser Absätze leitet eine Szene ein (die Szenen sind zwischen einer und fünf Seiten lang), die natürlich davon handelt, was die jeweilige Person gerade tut und denkt. Doch der gesamte Teil der Geschichte, aus dem diese Szenen stammen, dreht sich um die bevorstehende Schlacht. Das macht es mir leicht, immer wieder die Perspektive zu wechseln, weil der Leser sozusagen in dieselbe Richtung blickt wie die Figuren und daher nicht ständig aus der Geschichte gerissen wird. Wenn dann eine Figur kundtut, dass sie eine Szene übernehmen will, lasse ich das im Allgemeinen auch zu. Ich kann diese Dinge nicht planen, so bin ich nun einmal. (Es gibt Leute, die das können, und das ist schön für sie, aber ich weiß nicht, wie das geht.)
Auf der anderen Seite kann unmöglich jede Szene funktionieren. Manchmal wird einem einfach klar, dass man an einem bestimmten Punkt nicht weiterkommt. Wenn das passiert, muss man die Szene aufgeben (vielleicht kann man Teile retten, Bilder, Ideen oder Dialoge) und von einem anderen Ansatzpunkt aus in die Geschichte finden.
Ich fürchte, ich denke nie logisch darüber nach. Ich kann zwar logisch über das Schreiben nachdenken, aber nur im Nachhinein. Ich kann rückblickend erklären, wie und warum ich etwas getan habe, aber ich denke nicht bewusst darüber nach, während ich schreibe. (Es ist aber auch nicht so dass ich beim Schreiben gar nicht denke; es ist nur alles eher grafisch. Ich denke in Formen und Zusammenhängen, nicht in abstrakten Konzepten.)
Wie entscheide ich, aus wessen Perspektive ich schreibe? Meistens entscheidet sich das von selbst. Ich brauche einen „Kern“ um eine Szene anzufangen – etwas, was ich konkret beschreiben kann, damit die Worte anfangen zu fließen. Meistens weiß ich einfach, wer diesen „Kern“ sieht/hört/erlebt, und das ist dann die Figur, aus deren Perspektive ich schreibe. Wenn es eine knifflige Szene ist – die ich zum Beispiel brauche, um eine bestimmte Lücke zu füllen –, dann muss ich warten, bis die Worte von alleine auftauchen. Manchmal höre ich tatsächlich jemanden etwas sagen – meistens nichts Wichtiges, einfach nur irgendetwas –, und dann ist dieser Jemand die erzählende Figur..
Aber manchmal ist es auch einfach doch logisch. Zum Beispiel befindet sich überhaupt nur eine der Hauptpersonen in der Szene, also ist es offensichtlich ihre Perspektive. Oder die Handlung ist so eindeutig auf eine Person zugeschnitten, dass es auch die Perspektive ist. Ich würde zum Beispiel nie eine von Claires medizinischen Prozeduren aus einer anderen Perspektive beschreiben, wenn es nicht absolut sein muss. Bei Henry Greys Darmresektion habe ich es doch getan; zum einen, weil es eine lange, komplizierte Operation gewesen wäre und der Erzährhythmus das an diesem Punkt nicht hergab (Claire wäre nicht dazu im Stande gewesen, auf detaillierte Beobachtungen zu verzichten, und ich wollte mich nicht über Darmresektionen schlau machen und mir dabei auch noch den Kopf über Grenzen der medizinischen Technologie des 18ten Jahrhunderts zerbrechen müssen), zum anderen … hatte ich eine genaue Vorstellung von dem, was in Lord John vorging, während er zusah, wie diese Operation an seinem Neffen vorgenommen wurde und ihm Claire ein Stück abgeschnittenen Darm vor die Füße warf. Also war das seine Szene.

– Diana