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„Zeit der Stürme“ ist da — die letzte Leseprobe

„Zeit der Stürme“ ist da — die letzte Leseprobe

Lord John und der Herr der Zombies

Grey setzte sich und ließ sich von Tom das Haar bürsten und flechten. Dabei beobachtete er den jungen Mann, der gewissenhaft unter dem Bett und der Kommode suchte, Greys Koffer hervorzog und die Vorhänge aufhob und schüttelte.
„Wie ist Euer Name?“, fragte er den Mann, weil er bemerkte, dass Toms Finger heftig zitterten, und er ihn von seinen Gedanken an die feindliche Tierwelt ablenken wollte, von der es in Jamaica zweifellos wimmelte. In den Straßen Londons kannte Tom keine Angst und war jederzeit bereit, es mit wütenden Hunden oder schäumenden Pferden aufzunehmen. Spinnen dagegen waren etwas völlig anderes.
„Rodrigo, Sah“, sagte der junge Mann und hielt mit dem Schütteln des Vorhangs inne, um sich zu verbeugen. „Euer Diener, Sah.“
Er schien in Gesellschaft ganz unbefangen zu sein und unterhielt sich mit ihnen über die Stadt, das Wetter – für den Abend prophezeite er mit großer Sicherheit Regen gegen zehn Uhr –, so dass Grey den Eindruck bekam, dass er wahrscheinlich länger bei guten Familien als Bediensteter gearbeitet haben musste. War der Mann Sklave, fragte er sich, oder ein freier Schwarzer?
Seine Bewunderung für Rodrigo war, so versicherte er sich selbst, von der Art wie er sie auch für eine herrliche Skulptur oder ein elegantes Gemälde hegen würde. Und einer seiner Freunde besaß in der Tat eine Sammlung griechischer Amphoren, die mit Szenen verziert waren, bei deren Anblick er dasselbe fühlte. Er verrutschte sacht auf seinem Stuhl und schlug die Beine übereinander. Er würde bald zum Abendessen gehen. Er verlegte sich darauf, an große, haarige Spinnen zu denken und machte damit auch schon Fortschritte, als etwas Großes, Schwarzes durch den Kamin fiel und aus der erloschenen Feuerstelle gerannt kam.
Alle drei Männer schrien auf und stampften wild um sich. Diesmal war es Rodrigo, der den Eindringling zu Fall brachte, indem er ihn mit seinem stabilen Schuh zertrat.
„Was zum Teufel war das?“, fragte Grey und beugte sich vor, um das Tier zu betrachten, das fast neun Zentimeter lang, schwarzglänzend und mehr oder minder oval war und scheußlich lange, zuckende Fühler hatte.
„Nur eine Kakerlake, Sah“, beruhigte ihn Rodrigo und wischte sich mit der Hand über die feuchte, ebenholzfarbige Stirn. „Sie tun Euch nichts, aber sie sind wirklich ekelhaft. Wenn Sie zu Euch ins Bett kommen, fressen sie Eure Augenbrauen an.“
Tom stieß einen erstickten Aufschrei aus. Die Kakerlake, die alles andere als vernichtet war, war durch Rodrigos Schuh nur kurz lahmgelegt worden. Jetzt streckte sie ihre dornigen Beinchen aus, löste sich vom Boden und setzte sich wieder in Bewegung, wenn auch etwas langsameren Schrittes. Grey, dem die Haare auf den Armen zu Berge standen, nahm die Ascheschaufel aus dem Kaminbesteck, hob das Insekt damit auf und warf es zur Tür hinaus, so weit er konnte – was angesichts seines Gemütszustandes ziemlich weit war.
Tom war leichenblass, als Grey wieder ins Zimmer kam, doch er hob mit zitternder Hand den Rock seines Brotherrn auf. Er ließ ihn jedoch fallen, murmelte eine Entschuldigung und bückte sich gerade, um ihn wieder aufzuheben, als er einen unterstrückten Schrei ausstieß, den Rock wieder fallen ließ und zurücksprang. Er prallte so heftig gegen die Wand, dass Grey Pliesterlatten und Putz knacken hören konnte.
„Was zum Teufel?“ Er bückte sich und griff vorsichtig nach dem am Boden liegenden Rock.
„Nicht anfassen, Mylord!“, rief Tom, doch Grey hatte schon gesehen, was das Problem war; eine kleine gelbe Schlange glitt aus den roten Falten und bewegte neugierig den Kopf hin und her.
„Hallo, da bist du ja wieder.“ Er streckte eine Hand aus, und wie zuvor ließ die kleine Schlange ihre Zunge über seine Haut huschen, dann schlängelte sie sich auf seine Handfläche. Er stand auf und krümmte vorsichtig die Hand.
Tom und Rodrigo standen wie versteinert da und starrten ihn an.
„Sie ist vollkommen harmlos“, beruhigte er sie. „Zumindest glaube ich das. Sie muss mir vorhin in die Tasche gefallen sein.“
Rodrigo gewann allmählich die Fassung wieder. Er trat vor und betrachtete die Schlange, verzichtete aber darauf, sie anzufassen, und verschränkte die Hände fest im Rücken.
„Diese Schlange mag Euch, Sah“, sagte er und hob den Blick neugierig von der Schlange zu Greys Gesicht, als versuchte er, den Grund für eine solche Merkwürdigkeit auszumachen.
„Möglich.“ Die Schlange war weiter gekrochen und hatte sich jetzt um zwei seiner Finger gewickelt, die sie mit bemerkenswerter Kraft zusammenpresste. „Andererseits könnte es auch sein, dass sie gerade versucht, mich umzubringen und zu fressen. Wisst Ihr, wovon sie sich normalerweise ernährt? “

(c) Diana Gabaldon & Barbara Schnell