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Der achtzehnte April …

Der achtzehnte April …

(Aus: Outlander Buch 6, „Ein Hauch von Schnee und Asche“)

 

Roger wachte urplötzlich auf, ohne zu wissen, was ihn geweckt hatte. Es war stockfinster, doch es herrschte jene stille, nach innen gekehrte Atmosphäre der frühen Morgenstunden; die Welt, die den Atem anhält, bevor sich die Dämmerung mit dem Wind erhebt.

Er wandte den Kopf auf dem Kissen und sah, dass auch Brianna wach war; sie blickte zur Zimmerdecke, und er sah die kurze Bewegung ihrer Augenlider, als sie blinzelte.

Er bewegte die Hand, um sie zu berühren, und die ihre schloss sich darum. Eine Ermahnung zu schweigen? Er lag lautlos da und lauschte, hörte aber nichts. Ein Stück Holzkohle zerbrach mit einem erstickten Knacken im Kamin, und ihr Griff wurde fester. Jemmy warf sich mit einem leisen Quietschlaut im Bett auf die andere Seite und verstummte wieder. Die Stille der Nacht war ungebrochen.

“Was ist?”, sagte er leise.

Sie drehte sich nicht zu ihm um; ihr Blick war jetzt auf das Fenster gerichtet, ein dunkelgraues Rechteck, das gerade eben zu sehen war.

“Gestern war der achtzehnte April”, sagte sie. “Es ist soweit.” Ihre Stimme war ruhig, doch es lag etwas darin, das ihn dichter an sie heranrücken ließ, sodass sie Seite an Seite lagen und sich von der Schulter bis zum Fuß berührten.

Irgendwo nördlich von ihnen sammelten sich jetzt gerade die Männer in der kalten Frühlingsnacht. Achthundert britische Soldaten, die sich stöhnend und fluchend bei Kerzenschein anzogen. Diejenigen, die im Bett gewesen waren, erhoben sich zum Schlag der Trommel, die an den Häusern, Lagerhäusern und Kirchen vorbeizog, in denen sie einquartiert waren; diejenigen, die nicht im Bett gewesen waren, erhoben sich stolpernd von Würfelspiel und Zechgelage, von den warmen Kaminfeuern der Wirtshäuser, aus den warmen Armen der Frauen, suchten nach verlorenen Schuhen und ergriffen ihre Waffen, um dann zu zweit, zu dritt oder zu viert scheppernd und murmelnd durch den gefrorenen Straßenschlamm zur Musterstelle zu gehen.

“Ich bin in Boston groß geworden”, sagte sie in leisem, scheinbar ungerührtem Ton. “Jedes Kind in Boston hat dieses Gedicht irgendwann gelernt. Ich habe es in der fünften Klasse gelernt.”

“Passt auf meine Kinder und höret her/Vom Mitternachtsritt des Paul Revere?” Roger lächelte, als er sie sich in der Uniform der katholischen St.-Finbar-Schule vorstellte, blauer Pulli, weiße Bluse und Kniestrümpfe. Er hatte einmal ihr Klassenfoto aus dem fünften Schuljahr gesehen; sie sah aus wie ein kleiner, wütender, zerzauster Tiger, den ein Verrückter in Puppenkleidchen gesteckt hatte.

“Genau das. Am achtzehnten Tag im April es war/Man schrieb das fünfundsiebzigste Jahr/Kaum Einer noch lebt der darum weiß, von jenem Tage so schlachtenheiß.”

Kaum einer noch lebt”, wiederholte Roger leise. Irgendjemand – wer? Ein Hausbesitzer, der die britischen Kommandeure belauschte, die bei ihm einquartiert waren? Eine Kellnerin, die eine Runde von Sergeanten mit heißem Rum versorgte? Geheimhaltung war unmöglich, nicht, wenn sich achthundert Männer auf dem Marsch befanden. Es war alles eine Frage der Zeit. Jemand hatte eine Nachricht aus der besetzten Stadt geschickt, die Nachricht, dass die Briten vorhatten, die in Concord gelagerten Waffen nebst Pulver an sich zu bringen und gleichzeitig Hancock und Samuel Adams zu verhaften – den Gründer des Komitees für die Sicherheit und den flammenden Redner, die Anführer “dieser verräterischen Rebellion”, von der man in Lexington höre.

Achthundert Männer, um zwei zu verhaften? Die Chancen standen nicht schlecht. Und ein Silberschmied und seine Freunde hatten sich, alarmiert von dieser Nachricht, in die kalte Nacht aufgemacht.

“Revere sprach zum Freund: ‚Wenn der Briten Heer

Heut Nacht aus der Stadt zieht zu Land oder Meer,

So häng in der Nordkirche Glockenturm

Flugs eine Laterne als Zeichen zum Sturm.

Nur eine, sobald sie zu Lande ziehn fort,

Doch zwei, wenn sie gehn an der Schiffe Bord.

Ich harre am anderen Ufer zur Zeit

Zum Ritte und zu dem Alarmruf bereit.

Durch die Dörfer und Weiler in Middlesex Land,

Dass wach sei das Landvolk, die Waff‘ in der Hand.”

“Solche Gedichte schreibt heute keiner mehr”, sagte Roger. Doch trotz seiner zynischen Worte stahlen sich die Bilder in seinen Kopf; der dampfende Atem eines Pferdes, weiß in der Dunkelheit, und jenseits des schwarzen Wassers der winzige Stern einer Laterne, hoch über der schlafenden Stadt. Und dann ein zweiter.

“Und was dann?”, sagte er.

“Dann rief er ‚Gut Nacht‘, still fuhr er gewandt

Mit umwickelten Rudern nach Charlestowns Strand,

Als der Mond emporstieg über der Bay,

Wo an ihrem Anker sich wiegend frei

Das britische Kriegsschiff, die Somerset, lag.

Ein Geisterschiff schien es, der Mondschein sich brach

An jedem Maste, an jedem Mann,

Wie Gefängnisgitter sie alle sahn.

Ein dunkler Rumpf, der noch einmal so groß

Als Spiegelbild durch die Fluten schoss.”

“Nun, das ist doch gar nicht so schlecht”, sagte er einsichtig. “Die Stelle mit der Somerset gefällt mir. Als hätte es ein Maler beschrieben.”

“Halt die Klappe.” Sie trat nach ihm, allerdings nur halbherzig. “Dann geht es weiter mit seinem Freund, der lauschenden Ohrs durch Gässchen und Straßen wandert –” Roger prustete, und sie trat noch einmal nach ihm. “Bis er in der Stille ringsum vernahm/Wie am Tore des Lagers zur Must’rung man kam/Der Waffen Lärm, der Füße Tritt/Der Grenadiere gemessenen Schritt/Hinunter marschierend zum öden Strand/Zu den Booten, sich schaukelnd am schäumenden Rand.

Er hatte sie einmal im Frühling in Boston besucht. Mitte April würden die Bäume erst einen Hauch von Grün tragen, ihre Äste immer noch mehr oder weniger kahl vor dem blassen Himmel. Die Nächte waren immer noch eiskalt, doch es schlummerte Leben in der Kälte, und etwas Frisches regte sich in der frostigen Luft.

“Dann kommt eine langweilige Passage über einen Freund, der die Kirchturmtreppe hinaufsteigt, aber die nächste Strophe gefällt mir.” Sie senkte ihre ohnehin schon leise Stimme zu einem Flüstern.

“Auf dem Kirchhof unten gebettet war

In ihrem Nachtlager der Toten Schar

In so tiefes und regloses Schweigen gehüllt

Dass er hören konnte von Schrecken erfüllt

Gleich Schildwachenschritten den Wind der Nacht,

Der leise nahte, sich schleichend sacht

Von Zelt zu Zelt zu flüstern schien:

‚S’ist alles bereit.‘ Ein Weilchen nur

Des Orts und der Stunde Zauberspur

Und der Schreck, auf dem Kirchturm so allein

Inmitten der Gräber der Toten zu sein

Umwogten mit ihren Gebilden ihn.

Dann plötzlich er dachte der Schattengestalt,

Die in weiter Ferne vorüberwallt,

Wo der Strom sich verbreitert, zu grüßen das Meer,

Eine dunkle Linie, die schwankt hin und her,

Auf der steigenden Flut durchfließt sie die Nacht,

Gleichwie eine Brücke aus Booten gemacht.“

Sie gab den dramatischen Flüsterton auf und sprach normal weiter. “Dann schlägt der alte Paul die Zeit tot, während er auf das Signal wartet”, sagte sie. “Aber schließlich erscheint es, und dann …

Ein Hufschlag durcheilend der Dorfhäuser Reih’n

Ein Schatten, ein Umriss im Mondenschein,

Und von einem Rosse, gar mutig und schnell,

Von den Steinen fliegende Funken so schnell,

Das war alles! Und doch durch das Licht und die Nacht

Das Geschick eines Volkes wie rasend jagt,

Und der Funke, den der jagende Rosshuf sprüht

Mit Flammen das ganze Land durchglüht.”

“Das ist doch sogar ziemlich gut.” Seine Hand legte sich auf ihren Oberschenkel, gleich über dem Knie, für den Fall, dass sie noch einmal nach ihm trat, doch das tat sie nicht. “Weißt du den Rest noch?”

“Er folgt also dem Mystic River”, sagte Brianna, ohne ihn zu beachten, “und dann kommen die drei Strophen, in denen er die Orte durchquert:

„Zwölf Uhr die Glocke der Dorfkirche schlug,

Als die Brücke nach Medford er kreuzte im Flug;

Er hörte die Hähne im Hofe krähn,

Die Hunde bellen, und er spürte das Weh’n

Der Dünste, die stiegen vom Flusse empor,

Sobald sich der Schimmer der Sonne verlor.

Eins schlug’s an der Dorfuhr, da flog er schon

Im wilden Galoppe durch Lexington,

Und geisterhaft schaute der Wetterhahn

Im Mondlichte schimmernd den Rasenden an;

Des Bethauses Fenster, so bleich und so kahl,

Sie grinsten wie Geister ihn an so fahl,

Als wollten vor Schrecken sie schier vergehn

Ob der blut’gen Tat, die sie sollten sehn.

Zwei schlägt die Dorfuhr — und ja, ich höre die Glocke in den Anfangszeilen schlagen, sei still!” Er hatte tatsächlich Luft geholt, allerdings nicht, um Brianna zu unterbrechen, sondern nur, weil ihm plötzlich aufgefallen war, dass er den Atem angehalten hatte.

Zwei schlägt die Dorfuhr”, wiederholte sie,

„und schon er sich naht

Hinstürmend der Brücke von Concords Stadt.

Er hört das Blöken der Herden am Wald,

Das Gezwitscher der Vögel so lieblich erschallt,

Er fühlt den Windhauch im Morgengrau’n,

Der wehet über der Wiesen Braun.

Und einer schlief ruhig, den Gottes Gebot

An der Brücke als Ersten ersehen zum Tod,

Der fallen sollte am heutigen Tag,

Durchbohrt von der britischen Kugel Schlag.

Das Weitere kennt ihr.” Sie verstummte abrupt und drückte ihm fest die Hand.

Von einer Sekunde zur nächsten hatte sich das Wesen der Nacht verändert. Die Stille der frühen Morgenstunden war vergangen, und ein Windhauch fuhr draußen durch die Bäume. Ganz plötzlich war die Nacht wieder lebendig geworden, doch jetzt verging sie und raste der Dämmerung entgegen.

Die Vögel zwitscherten zwar noch nicht, doch sie waren wach; irgendetwas rief wieder und wieder im nahen Wald, schrill und süß. Und durch die abgestandene, schwere Luft des Feuers atmete er die wilde, saubere Morgenluft und spürte, wie sein Herz plötzlich drängend schlug.

“Erzähl es mir”, flüsterte er.

Er sah die Schatten von Männern zwischen den Bäumen, sah sie heimlich an Türen klo pfen, hörte sie gedämpft und aufgeregt konferieren – und die ganze Zeit wurde es im Osten heller. Plätscherndes Wasser und knarrende Ruder, die Laute unruhigen Milchviehs, das danach verlangte, gemolken zu werden, und mit dem zunehmenden Wind der Geruch von Männern, schal von Schlaf und Hunger, scharf vom Schwarzpulver und dem Duft des Stahls.

Und ohne nachzudenken zog er seine Hand aus der Umklammerung seiner Frau, wälzte sich auf sie, zog ihr das Hemd von den Oberschenkeln und nahm sie fest und schnell, um von fern jenen blinden Drang nach Vermehrung zu teilen, der aus der unmittelbaren Nähe des Todes entsprang.

Lag zitternd auf ihr; der Wind aus dem Fenster trocknete ihm den Schweiß auf dem Rücken, das Herz hämmerte ihm in den Ohren. Für den einen, dachte er. Den einen, der als erster fallen würde. Den armen Kerl, der seine Frau vielleicht nicht in der Dunkelheit genommen hatte, die Gelegenheit nicht genutzt hatte, sie zu schwängern, weil er keine Ahnung gehabt hatte, was mit der Dämmerung auf ihn zukam. Dieser Dämmerung.

Brianna lag still unter ihm; er konnte das Heben und Senken ihrer Atmung spüren, ihrer kräftigen Rippen, die sich sogar unter seinem Gewicht hoben.

Das Weitere kennt ihr”, flüsterte sie.

“Brianna”, sagte er ganz leise. “Ich würde meine Seele verkaufen, um jetzt dort zu sein.”

“Schhh”, sagte sie, doch ihre Hand hob sich und ließ sich wie segnend auf seinem Rücken nieder. Sie lagen still, sahen zu, wie es heller wurde, und schwiegen.

 

(c) Diana Gabaldon & Barbara Schnell. Bitte verlinkt auf diesen Beitrag, aber kopiert ihn nicht. Die Übersetzerin bedankt sich auch Jahre später unvermindert bei Christiane Schreiter und den Baunschweiger Stadtbibliothekaren, mit deren Hilfe wir die deutsche Fassung von Paul Reveres Ritt aufgespürt haben!