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Alles Gute zum Muttertag!

Alles Gute zum Muttertag!

Einen Tag verspätet, aber von Herzen …

–Diana

(Aus: OUTLANDER, Ferne Ufer, 2016)

DAS GRAB BEFAND sich auf dem kleinen Friedhof, der dem Konvent vorbehalten war, im Schatten der nahen Kathedrale. Obwohl die Luft, die von der Seine herüberwehte, feucht und kalt war und der Tag bewölkt, herrschte im Inneren der Friedhofsmauern ein sanftes Licht, das von den hellen Sandsteinen zurückgeworfen wurde, die den kleinen Hof vor dem Wind schützten. Im Winter wuchsen hier keine Stauden oder Blumen, aber die unbelaubten Eschen breiteten sich wie zarte Spitze gen Himmel aus, und trotz der Kälte grünte hier Moos, das die Steine umarmte.
Er war ein kleiner Stein aus weißem Marmor. Ein Flügelpaar breitete sich darüber und behütete das Wort, das den einzigen weiteren Schmuck des Steins bildete. „Faith” stand dort.
Ich stand da und blickte auf den Stein, bis es mir vor den Augen verschwamm. Ich hatte eine Blume mitgebracht; eine rosa Tulpe – mitten im Dezember im Paris nicht leicht zu finden, doch Jared besaß einen Wintergarten. Kniend legte ich sie auf den Stein und strich mit dem Finger über das sanft gerundete Blütenblatt, als sei es die Wange eines Neugeborenen.
„Ich hatte nicht gedacht, dass ich weinen würde“, sagte ich ein wenig später.
Ich spürte Mutter Hildegardes Hand auf meinem Kopf.
„Le Bon Dieu ordnet die Dinge so, wie Er es für das Beste hält“, sagte sie leise. „Doch Er teilt uns nur selten mit, warum.“
Ich holte tief Luft und wischte mir mit einem Zipfel meines Umhangs über die Wangen. „Aber es ist so lange her.“ Ich erhob mich langsam, und als ich mich umdrehte, sah ich, wie mich Mutter Hildegarde mit tiefem Mitgefühl und Neugier betrachtete.
„Ich habe festgestellt“, sagte sie bedächtig, „dass die Zeit für Mütter im Grunde nicht existiert, wenn es um ihre Kinder geht. Es spielt keine Rolle, wie alt das Kind ist – mit einem Wimpernschlag kann die Mutter es wieder so sehen, wie es war, als es geboren wurde, als es laufen lernte, in jedem beliebigen Alter … zu jeder Zeit, selbst wenn das Kind erwachsen ist und selber Kinder hat.“
„Vor allem, wenn sie schlafen“, sagte ich und senkte den Blick noch einmal auf den kleinen weißen Stein. „Dann kann man stets das Baby sehen.“
„Ah.“ Mutter Hildegarde nickte zufriedengestellt. „Ich hatte doch den Eindruck, dass Ihr noch mehr Kinder bekommen habt; irgendwie wirkt Ihr so. “
„Eins.“ Ich sah sie an. „Und woher wisst Ihr so viel über Mütter und Kinder? “
Ihre kleinen schwarzen Augen leuchteten scharfsichtig unter den dichten Brauen hervor, die völlig weiß geworden waren.
„Im Alter benötigt man nur sehr wenig Schlaf“, sagte sie und zuckte mit den Schultern. „Manchmal wandere ich nachts durch die Stationen. Die Patienten sprechen mit mir.“
Mit fortschreitendem Alter war sie ein wenig geschrumpft; ihre breiten Schultern waren ein wenig zusammengesunken, und sie war spindeldürr unter dem schwarzen Serge ihrer Tracht. Doch auch so war sie noch größer als ich, und sie überragte auch die meisten der anderen Nonnen, jetzt zwar eher wie eine Vogelscheuche, doch so gebieterisch wie eh und je. Sie trug einen Gehstock, bewegte sich aber aufrecht und festen Schrittes, und ihr Blick war unverändert durchdringend. Den Stock benutzte sie eher, um Müßiggänger anzustoßen oder Untergebene zu dirigieren als um sich darauf zu stützen.
Ich putzte mir die Nase, und schlugen den Weg ein, der zurück zum Kloster führte. Während wir langsam zurückspazierten, fielen mir hier und da noch weitere kleine Steine zwischen den größeren auf.
„Sind das alles Kinder?“, fragte ich ein wenig überrascht.
„Die Kinder der Nonnen“, sagte sie gelassen. Ich starrte sie mit offenem Mund an, und sie zuckte mit den Schultern, elegant und ironisch wie immer.
„Es kommt vor“, sagte sie. Sie ging noch einige Schritte weiter, dann fügte sie hinzu: „Nicht oft natürlich.“ Sie wies mit ihrem Stock über den Friedhof.
„Dieser Ort ist den Schwestern vorbehalten, einigen Wohltäter des Hospitals – und denen, die sie lieben.“
„Die Schwestern oder die Wohltäter?“
„Die Schwestern. He, du Lump!“
Mutter Hildegarde hielt inne, weil sie einen Krankenträger erspähte, der untätig an der Kirchenmauer lehnte und eine Pfeife rauchte. Während sie ihm im schneidend-eleganten Höflingsfranzösisch ihrer Kindheit eine Standpauke hielt, blieb ich im Hintergrund stehen und sah mich auf dem kleinen Friedhof um.
An der Rückwand, doch immer noch auf geweihtem Boden, befand sich eine Reihe kleiner Steintafeln, jede mit einem einzelnen Namen – „Bouton“. Unter jedem Namen befand sich eine römische Ziffer von I bis XV. Mutter Hildegardes geliebte Hunde. Ich warf einen Blick auf ihren gegenwärtigen Begleiter, den sechzehnten Träger dieses Namens. Diesmal war er kohlrabenschwarz und gelockt wie ein Persianer. Er saß kerzengerade zu ihren Füßen, die runden Augen auf den Missetäter gerichtet, ein schweigendes Echo der lautstarken Missbilligung seiner Herrin.
Die Schwestern und die, die sie lieben.
Mutter Hildegarde kam zurück, und ihre strenge Miene ging auf der Stelle in ein Lächeln über, das ihre Gnomenzüge in Schönheit verwandelte.
„Ich bin so froh, dass Ihr noch einmal gekommen seid, ma chère“, sagte sie. „Kommt mit nach innen; ich finde gewiss etwas, das Euch auf Eurer Reise von Nutzen ist.“ Sie schob sich den Stock unter den Ellbogen und stützte sich stattdessen auf meinen Arm. Sie ergriff ihn mit ihrer warmen, knochigen Hand, deren Haut so dünn wie Papier geworden war. Ich hatte das seltsame Gefühl, dass nicht ich diejenige war, die sie stützte, sondern dass es umgekehrt war.
Als wir in die kleine Eibenallee einbogen, die auf das Hôpital zuführte, blickte ich zu ihr auf.
„Ich hoffe, Ihr haltet mich nicht für unhöflich, Mutter“, sagte ich zögernd, „aber es gibt eine Frage, die ich Euch gern …“
„Dreiundachtzig“, erwiderte sie prompt. Sie grinste breit und zeigte dabei ihre langen gelben Pferdezähne. „Jeder will das wissen“, sagte sie gutmütig. Sie sah sich noch einmal nach dem kleinen Friedhof um und zuckte dann gleichmütig mit der Schulter.
„Noch nicht“, sagte sie zuversichtlich. „Le Bon Dieu weiß, wie viel hier noch zu tun ist.“

(c) Diana Gabaldon, Barbara Schnell. Bitte verlinkt auf diesen Beitrag, aber kopiert ihn nicht.