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Advent, Advent, ein Kerzlein brennt …

Advent, Advent, ein Kerzlein brennt …

Liebe Leser,

Barbara hatte die Idee, die vier Advents-Sonntage gemeinsam zu begehen, indem wir zu jeder Adventskerze einen Auszug aus dem kommenden Band der Highland-Saga hier veröffentlichen. Ich wünsche Ihnen Freude an diesem kleinen Geschenk und wünsche Ihnen eine schöne Vorweihnachtszeit!

–Diana

16. Juni 1778
Im Wald zwischen Philadelphia und Valley Forge

Ian Murray stand da, einen Stein in der Hand, und betrachtete die Stelle, die er ausgewählt hatte. Eine kleine, abgelegene Lichtung zwischen ein paar mit Flechten überzogenen Felsbrocken, überschattet von Fichten am Fuß einer hohen Zeder; ein Ort, den kein Wanderer zufällig aufsuchen würde, der aber dennoch nicht unzugänglich war. Er hatte vor, sie hierher zu bringen – die Familie. Zuerst Fergus. Vielleicht nur Fergus allein. Mama hatte Fergus großgezogen, seit er zehn war; vorher hatte er keine Mutter gehabt. Ian war ungefähr zur selben Zeit zur Welt gekommen, also hatte Fergus Mama genau so lange gekannt wie er selbst und sie genau so geliebt. Vielleicht sogar mehr, dachte er, und Schuldgefühle vergrößerten seinen Schmerz. Fergus war bei ihr in Lallybroch geblieben und hatte sich mit um sie und den Hof gekümmert; er nicht. Er schluckte krampfhaft, trat auf die kleine freie Stelle hinaus und legte seinen Stein in die Mitte. Dann trat er einen Schritt zurück.
Und stellte fest, dass er den Kopf schüttelte. Nein, es mussten zwei Grabhügel sein. Seine Mama und Onkel Jamie waren Bruder und Schwester, und die Familie konnte sie hier gemeinsam betrauern – doch vielleicht würde er auch andere hierher führen, damit sie sie nicht vergaßen und ihnen die letzte Ehre erwiesen. Und das waren Menschen, die zwar Jamie Fraser gekannt und geliebt hatten, die aber keine Ahnung hatten, wer Jenny Murray war.
Das Bild seiner Mutter in einem Grab durchbohrte ihn wie eine Forke, wich zurück, als ihm einfiel, dass sie ja nicht in einem Grab lag, und stieß dann noch einmal um so brutaler zu. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, wie sie ertranken, sich vielleicht aneinander klammerten, während sie versuchten, sich über …
„A Dhia!“, stieß er aus, ließ den Stein fallen und machte auf dem Absatz kehrt, um mehr zu suchen. Er hatte schon Menschen ertrinken sehen.
Mit dem Schweiß des Sommertags rannen ihm die Tränen über das Gesicht; er achtete nicht darauf und hielt nur hin und wieder inne, um sich die Nase am Ärmel abzuwischen. Er hatte sich ein zusammengerolltes Halstuch um den Kopf gebunden, um sich die Haare und den beißenden Schweiß aus den Augen zu halten; es war triefend nass, bevor er auch nur zwanzig Steine auf jeden der Grabhügel gelegt hatte.
Seine Brüder würden auf dem Friedhof von Lallybroch einen Grabhügel für seinen Vater errichtet haben. Und dann war die ganze Familie gekommen, gefolgt von den Pächtern und dann den Dienstboten, und jeder hatte dem Gewicht der Erinnerung seinen eigenen Stein hinzugefügt. Fergus also. Oder … nein, was dachte er da nur. Tante Claire musste die erste sein, die er hierher brachte. Sie war zwar keine Schottin, aber sie wusste genau, was ein solcher Grabhügel bedeutete, und vielleicht würde es sie ja ein wenig trösten, einen für Onkel Jamie zu sehen. Aye, gut. Tante Claire, dann Fergus. Onkel Jamie hatte Fergus an Sohnes Statt angenommen; es war Fergus‘ gutes Recht. Und dann vielleicht Marsali und die Kinder. Doch vielleicht war Germain ja alt genug, um mit Fergus zu kommen? Er war jetzt fast elf, beinahe Mann genug, um zu verstehen, um wie ein Mann behandelt zu werden. Und Onkel Jamie war sein Großvater; es war nur recht und billig so. Wieder trat er zurück und wischte sich keuchend über das Gesicht. Insekten summten ihm um die Ohren und unschwärmten ihn, gierig nach seinem Blut, doch er hatte sich bis auf einen Lendenschurz ausgezogen und sich nach Art der Mohawk mit Bärenschmalz und Minze eingerieben; sie rührten ihn nicht an.
„Wache über sie, o Geist der roten Zeder“, sagte er leise auf Mohawk und blickte ins duftende Geäst des Baumes auf. „Hüte ihre Seelen und lasse sie hier verweilen, so frisch wie deine Zweige.“ Er bekreuzigte sich und bückte sich, um im verrottenden Laub zu graben. Ein paar Steine noch, dachte er. Für den Fall, dass ein Tier sie verstreute. Verstreute wie seine Gedanken, die rastlos unter den Gesichtern seiner Familie umherstreiften, den Bewohnern von Fraser’s Ridge – Gott, ob er je dorthin zurückkehren würde? Brianna. Oh, Himmel, Brianna …
Er biss sich auf die Lippe und schmeckte Salz, leckte es ab und grub weiter. Sie war in Sicherheit bei Roger Mac und den Kindern. Doch, Gott, er hätte ihren Rat brauchen können – Roger Macs sogar noch mehr.
Wen konnte er jetzt noch fragen, wenn er Hilfe brauchte, sich um sie alle zu kümmern? Rachel kam ihm in den Sinn, und ihm wurde ein wenig leichter ums Herz. Aye, wenn er Rachel hätte … sie war jünger als er, nicht älter als neunzehn, und da sie Quäkerin war, hatte sie sehr seltsame Vorstellung davon, wie die Dinge sein sollten, doch wenn er sie hätte, hätte er massiven Fels unter den Füßen. Er hoffte, dass er sie bekommen würde, doch es gab immer noch Dinge, die er zu ihr sagen musste, und bei dem Gedanken an dieses Gespräch kehrte die Enge in seiner Brust zurück.
Doch das Bild seiner Cousine Brianna kehrte ebenfalls zurück und blieb vor seinem inneren Auge stehen: hochgewachsen mit der langen Nase und dem kräftigen Knochenbau ihres Vaters … und damit erhob sich auch das Bild seines Vetters. Briannas Halbbruder. Großer Gott, William. Und was fing er nur mit William an? Er bezweifelte, dass der Mann die Wahrheit kannte, wusste, dass er Jamie Frasers Sohn war – war es Ians Aufgabe, es ihm zu sagen? Ihn hierher zu bringen und ihm zu erklären, was er verloren hatte?
Er musste bei diesem Gedanken aufgestöhnt haben, denn sein Hund Rollo hob den kräftigen Kopf und sah ihn besorgt an.
„Nein, das weiß ich auch nicht“, sagte Ian zu ihm. „Lassen wir es einfach dabei, aye?“ Rollo legte den Kopf wieder auf die Pfoten, schüttelte sich die Fliegen aus dem Zottelpelz und sank in seeligen Frieden.
Ian arbeitete noch eine weile weiter und ließ seine Gedanken mit dem Schweiß und den Tränen verrinnen. Er hielt schließlich inne, als die sinkende Sonne die Spitzen seiner Grabhügel berührte, müde, aber friedvoller als zu vor. Die Hügelchen waren kniehoch, Seite an Seite, klein, aber solide. Eine Weile stand er still, ganz ohne zu denken, und lauschte dem Zirpen der kleinen Vögel im Gras und dem Atem des Windes in den Bäumen. Dann seufzte er tief auf, hockte sich hin und berührte einen der Hügel.
„Mo gragh, a mathair“, sagte er leise. Meine Liebe ist mit dir, Mutter. Schloss die Augen und legte die aufgeschürfte Hand auf den anderen Steinhaufen. Unter dem Schmutz, den er sich in die Haut gerieben hatte, fühlten sich seine Finger seltsam an, als könnte er geradewegs durch die Erde greifen und das berühren, was er brauchte.
Er verharrte reglos und atmete, dann öffnete er die Augen.
„Hilf mir dabei, Onkel Jamie“, sagte er. „Ich glaube, das schaffe ich nicht allein.“

***